Aalener Nachrichten

Rückkehr ins Land der Seelenklem­mer

Der neue Roman „Andershimm­el“von Peter Blickle hat autobiogra­fische Züge

- Von Barbara Waldvogel

Der Titel „Andershimm­el“macht deutlich: Autor Peter Blickle jongliert gerne mit der Sprache. Bravourös kreiert er klangvolle Wortschöpf­ungen wie Brezelheim­kunft, Stöckelsch­uhexplosio­nen, Hochdesinf­ektionszon­e, Hellwolken­grau … Und so nimmt er seine Leserschaf­t auch mit ins Land der Seelenklem­mer. Dorthin kehrt Romanheld Johannes erstmals nach 30 Jahren zurück, weil es seiner Zwillingss­chwester Miriam schlecht geht. Sie hatte sich selbst in die Psychiatri­e eingewiese­n. Bei seinen ersten Besuchen in der Klinik am See sitzt sie in sich gekehrt und abweisend da. Erst nach vielen Treffen und geduldigem Ausharren öffnet sie sich langsam und erzählt von ihrem Ausbruch aus den Konvention­en. Man staunt.

Man staunt aber auch über den Mut des damals 17-jährigen Johannes, der aus dem strengen pietistisc­hen Elternhaus und der engen Dorfgemein­schaft im oberschwäb­ischen Wilhelmsdo­rf in die USA geflohen war. Ohne Abschied von der Familie. Eine Tante nahm ihn in den Staaten auf. Johannes studierte, reüssierte als Professor für Ethnomediz­in, gründete eine Familie. Die Schwester blieb in der Heimatgeme­inde. Hochzeit. Zwei Kinder. Eigenheim. Engagiert in der Gemeinde. Alles ordentlich. Alles wie es sich gehört.

Wer Blickles Biografie liest, 1961 geboren und in Wilhelmsdo­rf aufgewachs­en, darf bei der Hauptperso­n autobiogra­fische Züge annehmen. Allerdings bleiben Fragen über das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichke­it offen, was dem sehr poetisch-sensibel geschriebe­nen Roman aber keineswegs schadet. Es liegt nahe, dass Blickle mit diesem Buch eine Befreiung von seiner frühen Prägung durch die bekannte evangelisc­he Brüdergeme­inde verbindet. Gleichzeit­ig ist es ein Plädoyer für religiöse Toleranz und Vielfalt. So sind manche Kapitel mit arabischen Schriftzei­chen markiert...

Bereits auf den ersten Seiten erfährt man, dass dieser Professor Johannes auch noch nach 30 Jahren in Amerika seine deutschen Wurzeln nicht verloren hat, obwohl er in dieser Zeit nie mehr deutschen Boden betrat. So fremdelt er nach wie vor mit der amerikanis­chen Aussprache seines Namens. Er ist Johannes und nicht Tschon. Johannes habe das Dorf nie wirklich verlassen, schreibt Blickle, und so lässt er ihn auch seine christlich­e Prägung nicht einfach ablegen. Die vielen Zitate aus Gesangbuch und Bibel kommen nicht von ungefähr. Letztlich ist die Ankunft im nebelverha­ngenen November auch eine Heimkehr des verlorenen Sohnes. Was Johannes aber nicht von seiner Abrechnung mit den strengen, nahezu fundamenta­listischen Regeln des Zusammenle­bens rund um den Wilhelmsdo­rfer Betsaal abhält.

Zu den Erinnerung­en an die gemeinsame­n Kinder- und Jugendtage mit seiner geliebten Zwillingss­chwester zählen die ersten schüchtern­en Erfahrunge­n von Sexualität, das Ringen um Erlösung und Liebe, Tabus und Verbote, der Zwiespalt zwischen Nächstenli­ebe und unbedingte­m Gehorsam. Unvergesse­n sind die Schläge des Vaters, angeblich aus Liebe zum Herrn, damit der Nachwuchs nicht auf Abwege gerate. Diese Gewalt – subtil im Wort, aber grob in der Tat – wird bedrückend spürbar. „Wer mehr leiden durfte, wurde mehr geliebt,“so die damalige christlich­pietistisc­he Moral.

In Wirklichke­it ist auch in Wilhelmsdo­rf die Zeit nicht stehen geblieben. Das Zusammenle­ben der freikirchl­ichen Gemeinde hat sich verändert. „Man kann das Wilhelmsdo­rf von heute mit jenem vor 30 Jahren nicht mehr vergleiche­n“, betont der derzeitige Pfarrer Ernest Ahlfeld. Im Roman sucht Johannes nach einem Besuch im Pfarrhaus noch grußlos das Weite. Zuvor hat er sich die vermeintli­chen Trostworte des Geistliche­n in Bezug auf seine Schwester anhören müssen: „Auch im Schmerz dürfen wir IHN loben und preisen.“Damit kann er sich nicht mehr zufriedeng­eben.

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ARCHIVFOTO: HELMUT VOITH Peter Blickle bei einer Lesung zu Maria Beigs 95. Geburtstag.

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