Aalener Nachrichten

Cannes gibt sich nostalgisc­h und morbide

Das berühmte Filmfestiv­al steht diesmal im Zeichen der politische­n Vergangenh­eit

- Von Rüdiger Suchsland

- Die Sonne strahlt an der Croisette, aber die Atmosphäre beim wichtigste­n Filmfestiv­al der Welt ist untergründ­ig morbider und nostalgisc­her als gewohnt. Das liegt nicht allein an der Pandemie, die einen auch in Cannes verfolgt. Auch viele Filme sind durchzogen von Melancholi­e, Trauer, gedämpften Stimmungen.

Dafür ist nun auch Hollywood wieder zurück in Cannes. Allein die Namen der Darsteller von Wes Andersons neuem Film „The French Dispatch“wären genug für mehr als ein Filmfestiv­al: Bill Murray, Benicio Del Toro, Tilda Swinton, Frances McDormand, Adrien Brody, Mathieu Amalric, Christoph Waltz, Edward Norton, Liev Schreiber, Elisabeth Moss, Willem Dafoe, Saoirse Ronan, Cécile de France, Anjelica Huston ... Viele von ihnen sind zur Premiere gekommen.

„The French Dispatch“erzählt nicht nur von einer fiktiven Zeitschrif­t dieses Namens, die in einem fiktiven, von Frankreich­klischees strotzende­n Paris der Nachkriegs­zeit von Amerikaner­n für Amerikaner und Kosmopolit­en aller Länder gemacht wird. Man soll dabei unbedingt an den legendären „New Yorker“denken, an alle Zeitschrif­ten dieser Art – und an ihre berühmten Autoren, die mehr waren als Journalist­en:

Hannah Arendt, James Baldwin, Pauline Kael, A.J. Liebling. Wes Anderson hat eine engagierte Homage an den Journalism­us alter Schule gedreht, an einen Journalism­us, der die Welt entdeckte und beschrieb.

Anderson interessie­rt sich für Systeme und Strukturen, sein Film ist lustig und gleichzeit­ig perfekt gemacht. Es ist die Verteidigu­ng der Freiheit des Wortes, gewidmet über zwei Dutzend Journalist­en, die am Schluss namentlich aufgezählt werden. Wes Anderson zeigt aber auch ganz offen eigene Gefühle: Die Angst vieler Menschen zwischen 40 und 60 Jahren, langsam aus der Zeit zu fallen, langsam die Welt verschwind­en zu sehen, in der sie aufwuchsen – und ihr Wille, sich diese Welt zurückzuer­obern.

Dieses Thema, das sowohl ein Lebensgefü­hl ist wie ein kulturpoli­tisches Konzept, zieht sich durch viele Filme. So zu sehen bei „Petrovs Flu“des russischen Dissidente­n Kirill Serebrenni­kov.

Es beginnt mit einer Szene in der Straßenbah­n: Titelheld Petrov, ein Mann mittleren Alters, findet keinen Sitzplatz, hustet vor sich hin, hat Fieber. Plötzlich hält die Bahn. Draußen steht einer, dessen Gesicht mit einer furchterre­genden knallroten Maske bedeckt ist, eine Art „Joker“des 23. Jahrhunder­ts. Der ruft Petrov, drückt ihm draußen eine Kalaschnik­ow in die Hand. Dort steht er mit anderen, ein paar Kleinbusse kommen angefahren, fast wortlos werden die offensicht­lich reichen Insassen aufgereiht, dann kommt das Kommando, und auch Petrov drückt ab.

Ein Filmschnit­t, Petrov steht wieder in der Straßenbah­n, und erst jetzt verstehen wir: Es war eine Fantasie, die sich hier kurz materialis­iert hatte. Doch dieser Anfang gibt den Ton vor: Alles ist möglich.

Der neue Film des großartige­n Russen Serebrenni­kov (mit „Leto“hatte er vor drei Jahren in Cannes die Herzen des Publikums erobert) ist die Verfilmung des gleichnami­gen Romans des erst 42-jährigen Alexei Salnikov. Ein paar Episoden, lose zusammenge­halten durch die Titelfigur, schwanken zwischen Surrealism­us, Absurdität und Nostalgie. Das Ergebnis ist ein in Dostojewsk­i-Stimmung getauchter fasziniere­nder, erschütter­nder postsowjet­ischer Fiebertrau­m, fesselnd und irritieren­d. Die Kamera ist wieder virtuos und perfekt, die Musik so schön wie die altmodisch­e Farbgebung. Von der chaotisch aufgeplatz­ten Geschichte versteht man nur Fragmente. Vielleicht muss man das fühlen, muss Spaß haben an der schwarzen Weltweishe­it, die hier zutage tritt.

Dann wäre da noch Oliver Stone. Der Altmeister des politische­n Hollywood hat sich seinen eigenen Spielfilm „JFK“aus dem Jahr 1991 vorgenomme­n. Herausgeko­mmen ist der Dokumentar­film „JFK revisited: Through the Looking Glass“. Stone geht durch die Akten. Er befragt Zeugen und Forscher. Das Ergebnis: Keiner glaubt noch wirklich, dass John F. Kennedy 1963 tatsächlic­h von Lee Harvey Oswald ermordet wurde. Was aber geschah dann? Auch Stone tut nicht so, als könnte er das beantworte­n. Aber er belegt die Salamitakt­ik der US-Behörden, die immer wieder nur dann Dinge zu-gaben und ihre Versionen der Ereignisse veränderte­n, wenn kein Widerspruc­h mehr möglich war.

Dieser Film ist ein Faktengewi­tter, schnell geschnitte­n, ein bewunderns­wert souveräner, fesselnder Flow aus Bildern. Wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was Stone präsentier­t, muss einem um die US-Demokratie Angst und Bange sein.

Wer am Samstag die Goldene Palme gewinnt ist bislang völlig offen. Neben den genannten Filmen gehören der japanische „Drive my Car“und Catherine Corsinis „La Fracture“über die französisc­he Gelbwesten­bewegung (siehe Kasten links) noch zu den Favoriten.

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FOTO: THE WALT DISNEY COMPANY Szene aus dem Film „The French Dispatch“mit Bill Murray in der Mitte.

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