Mit Gorbatschow und Reagan im Hinterkopf
Russland und die USA verhandeln über ihre Atomwaffen-Arsenale und Cyberattacken
- Am heutigen Mittwoch beginnen in Genf amerikanisch-russische Konsultationen über die strategische Sicherheit. Angesichts der ungelösten Fragen zur Atomrüstung, die sich angehäuft haben, erwarten die Experten komplizierte und jahrelange Verhandlungen.
Die Delegationen sind das, was man hochkarätig nennt. Die russische Gruppe soll Vizeaußenminister Sergei Rjabkow anführen, den amerikanischen Unterhändlern steht Wendy Sherman vor, die erste stellvertretende Außenministerin, assistiert von Bonny Jenkins, der neuen US-Chefdiplomatin für Rüstungskontrolle und internationale Sicherheit.
Auf die Gesprächsrunde hatten sich die Präsidenten Joe Biden und Wladimir Putin bei ihrem Gipfel Mitte Juni am gleichen Ort geeinigt. Die Beziehungen der beiden Staaten gelten als ziemlich ruiniert, auch in Rüstungsfragen. Die vergangenen Jahre prägte Wladimir Putin mit seinen drohenden Trickfilm-Annoncen neuer russischer Hyperraketen. Und Donald Trump, der den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter Kurzund Mittelstreckenraketen kündigte und drauf und dran war, auch das New-Start-Abkommen über die Begrenzung strategischer Atomwaffen auslaufen zu lassen.
Sein Nachfolger Biden verlängerte den Vertrag diesen Januar schleunig. Aber weiter herrscht Misstrauen, auch in Moskau. Vergangene Woche beschwor Rjabkow den UN-Sicherheitsrat, die sogenannte Gorbatschow-Reagan-Formel zu bestätigen: Man müsse einen Atomkrieg unbedingt vermeiden, weil es darin keine Sieger gebe. Aber gleichzeitig diskutieren Staatsmedien und kremlnahe Politologen, wie der neue Kalte Krieg gegen die USA mithilfe Chinas zu gewinnen sei. „Nie wurde unser Land so satanisiert“, schimpft der Politikwissenschaftler Sergei Karaganow im Gespräch mit der Zeitung
„Argumenty i Fakty“über den Westen. „Auch die strategische Stabilität ist sehr fragil, weil es viele neue Akteure und neue Waffensysteme gibt. In den Fünfziger-Jahren hätte ein Krieg willentlich ausbrechen können, heute eher aus Versehen.“
Laut einer Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik sind jetzt etwa 60 Prozent der aktiven Atomwaffenbestände beider Seiten keinerlei Rüstungskontrollverträgen unterworfen. „Zu den ungelösten Hauptproblemen gehören die taktischen Waffen, Mittel- und Kurzstreckenraketen, aber auch die in Europa gelagerten 200 amerikanischen
Atombomben“, sagt der Moskauer Militärexperte Viktor Litowkin. Erstere könnten mit atomaren Sprengköpfen, Letztere an Bord von Flugzeugen zu strategischen Waffen werden, die Russland direkt bedrohen. Auch über diese nicht strategische Rüstung fehle jede Vereinbarung.
Das gilt ebenso für neue nuklear einsetzbare Offensivwaffen wie Hyperschallraketen oder Flugkörper mit unsteter Flugbahn, ebenso für Raketenabwehrsysteme. Auch fehlen Abkommen, die eine Militarisierung des Kosmos, etwa durch Killersatelliten, verhindern.
Völlig unklar ist auch, ob und wie beide Seiten, die noch immer etwa 90 Prozent der Atomwaffen weltweit besitzen, China und sein wachsendes Arsenal in die Verhandlungen mit einbeziehen. Und ob sie sich auf verbindliche Maßnahmen zur Ausschaltung von Cyberattacken einigen können. „Diese zielen nämlich auch darauf “, sagt Litowkin, „die Steuerung der strategischen Atomwaffen des Gegners auszuschalten“.
Die Zeitung „Iswestija“schreibt, ein Durchbruch sei bei den Konsultationen in Genf nicht zu erwarten. Eine heftige Untertreibung, angesichts hoch komplizierter und strittiger Tagesordnungspunkte. „Diese Verhandlungen“, so Litowkin, „werden sich Jahre hinziehen, bis es Ergebnisse gibt“. Aber es sei zu begrüßen, dass wieder verhandelt wird.