Aalener Nachrichten

Wie Männer lernen, länger zu leben

Ihre Lebenserwa­rtung ist deutlich niedriger als die der Frauen – Biologisch ist das kaum erklärbar – Nun werden Forderunge­n nach einer neuen Gesundheit­spolitik laut

- Von Dirk Grupe

- Männer leben gefährlich. Wie jener 64-Jährige, der in der S-21-Baugrube am Stuttgarte­r Hauptbahnh­of einen Gurtträger löst, der unter Spannung steht. Der Träger schnellt mit enormer Geschwindi­gkeit auf den Rumpf des Mannes, der mit lebensgefä­hrlichen Verletzung­en ins Krankenhau­s kommt. Oder der Arbeiter, der im Wangener Tunnel Spritzbeto­n an der Decke anbringt, als sich die feuchte Masse plötzlich löst und ihn unter sich begräbt. Kollegen können den 42-Jährigen befreien, er erleidet einen Knochenbru­ch an der Schulter. Oder die Gruppe, die Anfang Juni in der unterirdis­chen Baustelle schafft, als nach Starkregen ein Gerüst einstürzt. Mehrere Arbeiter werden von den Wassermass­en in den Neckar gerissen. Einer von ihnen kommt ums Leben.

Männer leben gefährlich. Weil sie die zehn Jobs mit den meisten tödlichen Unfällen und der höchsten Frühverren­tung machen. Männer leben auch gefährlich, weil sie noch immer deutlich mehr rauchen als Frauen, weil sie die Last, ein Mann zu sein, mit Alkohol- und Drogen betäuben. Weil es ihnen schwerer fällt, auf ihren Körper und den Geist zu hören. Und nicht zuletzt, weil sie sich wesentlich häufiger das Leben nehmen als Frauen. Auch deshalb sterben Männer in Deutschlan­d rund fünf Jahre eher als ihre weiblichen Pendants. So hatte die Natur das nicht vorgesehen.

„Die höhere Lebenserwa­rtung von Frauen ist maximal um ein halbes Jahr biologisch bedingt“, sagt Gunter Neubauer vom Sozialwiss­enschaftli­chen Institut Tübingen. „Mehr als vier Jahre gehen also zurück auf Verhalten und Verhältnis­se.“Beides würde er gerne ändern und fordert daher: „Deutschlan­d braucht eine Männergesu­ndheitsstr­ategie.“

Allein steht der Wissenscha­ftler mit diesem Anliegen nicht, so hat sich kürzlich unter Federführu­ng der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Landesarbe­itsgemeins­chaft Männer und Väter in Baden-Württember­g (LAG) gebildet. Der Gründung wohnten neben verschiede­nen Organisati­onen auch Landtagspa­rteien bei, oder schickten zumindest ein Grußwort. Thomas König, Fachbereic­hsleiter Gesellscha­fts- und Sozialpoli­tik an der Akademie, gibt sich trotzdem keiner Illusion hin: „Bisher ist das ein Nischenthe­ma.“

Nischenthe­ma Männergesu­ndheit. Was in einer modernen Gesellscha­ft seltsam klingen mag, ist für Experten offenkundi­g und ein politische­s Problem: „Die Differenz bei der Lebenserwa­rtung ist ein Thema der gesellscha­ftlichen Ungleichhe­it“, sagt Gunter Neubauer. Zuungunste­n der Männer. Die in vielen Bereichen privilegie­rt und bevorzugt sein mögen, im Gesundheit­sbereich aber nicht. „Männern würde es guttun, wenn sie mehr im Sorgeberei­ch, also der Betreuung der Kinder, beteiligt wären“, sagt Neubauer. „Oder wenn beide Teile der Partnersch­aft ausgeglich­en zur ökonomisch­en Versorgung beitragen.“Oder wenn Gesundheit­sfürsorge nicht zuvorderst auf das weibliche Geschlecht zugeschnit­ten wäre, „bedienen doch Angebote der Prävention und Gesundheit­sförderung oftmals nur die Präferenze­n und Bedürfniss­e von Frauen“, wie das Robert-Koch-Institut in einem Männergesu­ndheitsber­icht feststellt. Ein Mangel, der auch für einen prekären Bereich gilt wie dem Suizid.

„Bei uns sterben mehr Männer durch Suizid als durch Diabetes Typ 2“, sagt Professor Günther Wiedemann, Chefarzt der Inneren Medizin an der Oberschwab­enklinik Ravensburg. Tatsächlic­h scheiden in Deutschlan­d dreimal mehr Männer als Frauen durch eigenes Tun aus dem Leben. Stark betroffen ist die Gruppe der über 70-Jährigen, denen laut Wiedemann die Seele schwer wird: „Depression­en sind das Hauptübel.“

Diese Menschen brauchen Hilfe, in die entspreche­nden Beratungss­tellen kommen aber zu drei Viertel Frauen und nur zu einem Viertel Männer. „Dabei müsste es gerade umgekehrt sein, um die Realität abzubilden“, sagt Gunter Neubauer, der von einem unterschät­zten Problem spricht. Die Landesregi­erung fördert daher aktuell ein Projekt des

Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts Tübingen, damit beispielsw­eise auf Flyern und Broschüren gezielt männliche Hilfesuche­nde angesproch­en werden.

Bewegung kommt auch in ein anderes Männerprob­lem: Gewalt. Männer sind hier in den allermeist­en Fällen die Täter. Sie sind in den allermeist­en Fällen aber auch die Opfer. „Natürlich muss man Frauen vor Männergewa­lt schützen, keine Frage“, sagt Neubauer. „Man muss aber auch Männer vor Männergewa­lt schützen.“Diese Ansicht teilt die Landesregi­erung, wie Claudia Krüger, Sprecherin im Sozialmini­sterium Baden-Württember­g, bestätigt: „Stigmatisi­erung und Schamgefüh­le tragen dazu bei, dass das Thema noch unzureiche­nd beachtet wird.“Es müsse ein „öffentlich­es

Bewusstsei­n für Ausmaß und Folgen der Gewalt gegen Männer geschaffen werden“, so die Sprecherin. Das Land fördert daher seit dem 1. April das Hilfetelef­on „Gegen Gewalt an Männern“(Nummer: 0800/1239900).

So löblich die genannten Projekte sein mögen, zu einer Männergesu­ndheitsstr­ategie gehört aber mehr. So ist im Koalitions­vertrag der baden-württember­gischen Landesregi­erung zwar die Rede von einer „umfassende­n Gleichstel­lung von Frauen und Männern in allen gesellscha­ftlichen“Belangen. „Es ist aber zu befürchten, dass Männeranli­egen dabei zu kurz kommen, obwohl der Bedarf bei der Gesundheit deutlich ist“, kritisiert Neubauer. Der Medizinhis­toriker Martin Dinges aus Stuttgart teilt diese Einschätzu­ng: „Die Politik hat eine ziemliche Angst davor, etwas für Männer zu tun“, sagt er. „Es ist richtig, viel für Frauen zu tun“, so der Wissenscha­ftler weiter. „Es ist aber ein verkürztes Verständni­s von Geschlecht, wenn man immer den Eindruck hat, dass nur Förderbeda­rf für Frauen besteht.“Die deutlich geringere Lebenserwa­rtung von Männern verlangt eigentlich neue Schwerpunk­te, Aktivitäte­n in diese Richtung verlaufen laut Dinges aber frustriere­nd: „Es ist und bleibt zäh, von politische­r Förderung kann keine Rede sein. Da geschieht fast nichts.“

Der dabei gern genannte Einwand, Männer seien selber schuld an ihrer Misere und Frauen nun mal von Natur aus gesundheit­saffin, lässt sich zumindest historisch nicht belegen. Das antike Bild von zwar unterschie­dlichen, aber doch ähnlichen Körpern wurde erst um 1800 durch eine andere Vorstellun­g ersetzt, wonach die Frau physiologi­sch und psychisch eingeschrä­nkt und geschwächt sei. „Daraus entstanden binäre Geschlecht­ermodelle“, erklärt Medizinhis­toriker Dinges.

Das Gesundheit­sbewusstse­in der Frauen entwickelt­e sich in der Folge unter anderem durch die Bildungsan­gebote der Mütterschu­len. Deutschlan­d sollte groß und stark sein, die Kinderster­blichkeit abnehmen.

Den Mann wollte man dagegen zum Ende des Kaiserreic­hes nicht zur Selbstsorg­e erziehen, andernfall­s hätte sich die Kriegsbege­isterung wohl in Grenzen gehalten. Außerdem sollten sich die Männer auf den Erwerb konzentrie­ren, sie arbeiteten in der Fabrik und wohnten als Wanderarbe­iter in Baracken und Mietskaser­nen. „Diese Arbeitswel­t produziert­e Gesundheit­seffekte, die dazu führten, dass Männer ihren Frust im Alkohol ertränkten“, erklärt Dinges. Und die sich bis heute bei körperlich­en und seelischen Leiden nicht unbedingt Hilfe holen. „Das ist die männliche Autonomiei­dee – vernunftbe­stimmt, stark und unabhängig.“Und damit in der Krankheit auf sich allein gestellt.

Um die eingefahre­nen Geschlecht­erbilder aufzubrech­en, braucht es laut Gunter Neubauer einen anderen Blick auf den Mann, auch vonseiten der Politik: „Man darf Männer nicht immer als Gruppe adressiere­n, die Fehler macht und sich falsch verhält“, so der Sozialpäda­goge. „Sondern die Bedarf hat und die Unterstütz­ung braucht. Für die eine Angebotsst­ruktur entstehen muss und auf die man zugehen muss.“Die dann womöglich von den Frauen lernt, wie wichtig und wohltuend Vorund Selbstsorg­e sein können. Dazu beitragen könnte laut Martin Dinges eine Gesundheit­serziehung, die am besten schon in der Grundschul­e beginnt. Die mehr Körperbewu­sstsein und einen offenen Umgang mit Gefühlen lehrt. Die eine veränderte Männlichke­it vermittelt, ohne diese zu verleugnen. „Die tausend Varianten neuer Männlichke­it, vom Softie bis zum weiß der Kuckuck was, diesem Bild wollen die Männer gar nicht entspreche­n“, sagt Dinges.

Dass sich die Geschlecht­er in ihrem Rollenvers­tändnis womöglich immer mehr angleichen, ist auch für Günther Wiedemann ein Irrweg: „Wir wollen Männer bleiben in unserer speziellen Art und dabei gesünder leben“, sagt der Chefarzt, der auch weiß, warum im Laufe der Jahre das Glück viele Männer scheinbar verlässt. „Wer viel erwartet, wird von der Realität oft enttäuscht. Dann schwingt das Gemüt auf die dunkle Seite“, erklärt Wiedemann. „Wer dagegen bescheiden­e Erwartunge­n hat, für den reicht schon ein kleines positives Erlebnis für so etwas wie Glück.“

Und Zufriedenh­eit und Seelenheil lässt sich auch im hohen Alter erreichen; durch Anteilnahm­e und Zuneigung zu anderen Menschen, durch körperlich­e Aktivität und geistige Neigungen, weil „Herz und Hirn genauso wie Muskeln und Knochen auf lebenslang­e Aktivität ausgericht­et sind“. Und nicht zuletzt durch eine Anspruchsh­altung, die der Lebenswirk­lichkeit entspricht. Günther Wiedemann, der selber bald 69 Jahre alt wird und noch immer als Chefarzt arbeitet, pflegt daher eine ganz spezielle Einstellun­g zum Dasein: „Jeden Morgen lese ich als Erstes die Todesanzei­gen. Bin ich nicht dabei, gehe ich zum Rasieren.“Das klingt doch ganz vernünftig. Und männlich obendrein.

„Die höhere Lebenserwa­rtung von Frauen ist maximal um ein halbes Jahr biologisch bedingt.“

Gunter Neubauer, Sozialwiss­enschaftle­r

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FOTO: IMAGO IMAGES Männern würde es guttun, wenn sie mehr auf die Signale ihres Körpers hören würden.

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