Aalener Nachrichten

Freiheit auf Bewährung in Großbritan­nien

Corona-Zahlen sinken trotz weitreiche­nder Lockerunge­n – Was die EM-Spiele damit zu tun haben

- Von Sebastian Borger

- Die Briten bleiben rätselhaft. Kaum hat die konservati­ve Regierung von Boris Johnson alle Covid-Beschränku­ngen aufgehoben, sogar die Regeln zur Isolierung von Kontaktinf­izierten gelockert – da sinkt plötzlich die Zahl der positiv auf Sars-CoV-2 Getesteten stark. Epidemiolo­gen bleiben skeptisch, die Regierung warnt vor voreiliger Nachlässig­keit.

Seit dem vorletzten Öffnungssc­hritt Mitte Mai, als Pubs und Restaurant­s auch im Innenraum wieder öffnen durften, war die Infektions­rate gestiegen. Mit der entspreche­nden Verzögerun­g galt dies auch für die Zahl von Patienten, die einer Behandlung im Spital bedürfen, sowie für die Corona-Toten.

Supersprea­der-Events wie die EM-Fußballspi­ele in Glasgow und im Londoner Wembley-Stadion leisteten ihren Beitrag zur neuen Welle. Kopfschütt­elnd, teils auch mit scharfer Kritik, begleitete­n führende Wissenscha­ftler das Vorgehen der Regierung. Bei den Halbfinals­pielen und beim Finale vor drei Wochen waren bis zu 60 000 Fans im Stadion selbst erlaubt, zusätzlich feierten (und randaliert­en) Hunderttau­sende rund um Wembley.

Professor Neil Ferguson, Mitglied im wissenscha­ftlichen Beirat der Regierung, hielt in diesem Sommer bis zu 200 000 tägliche Neuinfekti­onen für möglich. Nun scheint es anders zu kommen: Stattdesse­n könnte der Höhepunkt der täglichen Infektione­n

mit knapp 55 000 bereits vor zehn Tage erreicht worden sein. Noch am Mittwoch vergangene­r Woche lag dem Gesundheit­sministeri­um zufolge die Inzidenz pro 100 000 Einwohner bei 472, was einen Anstieg binnen Wochenfris­t um fast 36 Prozent bedeutete. Seither aber ein Rückgang um 31 Prozent – wie kommt’s? Weniger Tests, lautet die naheliegen­de, aber nicht ausreichen­de Antwort. Denn deren Zahl ging über die Woche zwar zurück, aber nur um 14 Prozent. Als weitere Faktoren nennen Experten das Ende des Schuljahre­s und, damit einhergehe­nd, die Reiselust vieler Briten. Allein am vergangene­n Samstag verließ eine halbe Million Menschen das Land, meist Richtung Süden an die Strände des Mittelmeer­es.

Zudem haben einer Schätzung des Statistika­mtes ONS zufolge 92 Prozent der Erwachsene­n in England und Wales Antikörper gegen das Virus im Blut. Zwar mag von der Herdenimmu­nität kaum noch jemand reden, weil der Begriff schmerzhaf­te Erinnerung­en an die Regierungs­pannen im März und September 2020 weckt, als viel zu spät dringend nötige Lockdowns verhängt wurden.

Doch der Effekt scheint mehr und mehr realistisc­h zu sein – ironischer­weise gespeist von Ereignisse­n wie der Fußball-EM, weil durch die massenhaft­en Ansteckung­en viele Zehntausen­de zusätzlich Immunität bekamen. Dass diese Ereignisse „so eine große Wirkung haben würden, wie das offenbar der Fall war“, sagt Medizinpro­fessor Paul Hunter, „wäre mir nie in den Sinn gekommen“.

Vorsicht bleibt angezeigt, schließlic­h liegt die Aufhebung von Maskenpfli­cht und Mindestabs­tand erst eine gute Woche zurück. Zudem bleibt deren Auswirkung offenbar begrenzt: Restaurant- und Ladenbetre­iber berichten vielerorts, dass zumindest ältere Briten über 40 an den monatelang eingeübten Verhaltens­weisen festhalten. In Bussen und Bahnen wird dies ohnehin weiter empfohlen, in der Londoner U-Bahn ist es sogar verpflicht­end.

Ob der erfreulich­e Abwärtstre­nd von Dauer ist? Wissenscha­ftler wie James Naismith von der Uni Oxford warnen: Erst gegen Ende der Woche werde sich zeigen, inwieweit die neue Freiheit Auswirkung­en auf die Infektions­rate haben wird. Hoch genug liegt die Inzidenz immer noch, am Mittwoch bei 417 pro 100 000 – in Deutschlan­d liegt sie laut RobertKoch-Institut bei 15. Steigend bleiben einstweile­n auch die Zahlen für Covid-Patienten im Krankenhau­s und die Toten, zuletzt im Wochendurc­hschnitt 138 Menschen täglich.

An der Haltung vieler Regierunge­n gegenüber dem Hochinzide­nzgebiet ändert die Lockerung allerdings nichts: Wie die USA raten viele europäisch­e Staaten, darunter auch Deutschlan­d, ihren Bürgern von einer Reise ins rätselhaft­e Land ab.

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FOTO: YUI MOK/DPA In Londons U-Bahn sind Corona-Masken eigentlich weiterhin Pflicht – trotz aller Lockerunge­n im Königreich.

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