Von Holzhäusern und Altbauten
Nirgendwo verbringen wir mehr Zeit als in unserer Wohnung oder unserem Haus. Doch Grund und Boden sind knapp. Der Klimawandel bringt neue Herausforderungen. Wie bauen und wohnen wir in Zukunft?
- „Schaffe, schaffe, Häusle baue“– Mit diesem Motto ließ sich die schwäbische Mentalität lange Zeit auf den Punkt bringen: Wer viel arbeitet, kann sich als Belohnung ein Haus nach eigenen Wünschen leisten. Doch die Realität hat den urschwäbischen Drang zu den eigenen vier Wänden längst überholt: Bauland ist knapp – und dort, wo es noch zu finden ist, steigen die Preise in astronomische Höhen. Städte wie Stuttgart oder München sind längst überfüllt, und selbst auf dem Land geht besonders im Südwesten Deutschlands der Platz aus und der Quadratmeterpreis in die Höhe. Experten sprechen von „Wahnsinn“. Wo und vor allem wie also sollen wir in Zukunft bauen, wohnen und leben?
„Wohnen ist eine existenzielle Frage“, sagt Marc Kirschbaum. Er ist Professor für Architekturtheorie und Entwerfen, außerdem Studiengangsleiter für Architektur an der renommierten Hochschule Heidelberg. Einer, der sich auskennt mit dem Bauen. Gerade deshalb vielleicht behagen ihm einfache Antworten nicht: „Generallösungen gibt es nicht“, konstatiert er. Kein Wunder, sind doch die Probleme allein mannigfaltig: Während neue Grundstücke häufig unerschwinglich sind, wird in den Städten die Bausubstanz immer älter. Einfach alles zu planieren und neu zu bauen geht auch nicht, denn: „Ohne Bauwende schaffen wir keine Klimawende“, sagt Kirschbaum. Laut einer Berechnung der Bundesregierung war der Gebäudesektor 2018 für 14 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich. Besonders die Herstellung von Zement gilt als Klimakiller. Rechnet man die Herstellung von Strom und Fernwärme oder von Baustoffen hinzu, schlägt das Bauen und Wohnen sogar mit 28 Prozent zu Buche. Weltweit liegt der Bau- und Gebäudesektor laut einem UN-Bericht von 2020 bei 38 Prozent der weltweiten Emissionen. Zum Vergleich: Der internationale Flugverkehr liegt bei rund 2,5 Prozent.
Kirschbaum plädiert deshalb dafür, so viel vorhandene Bausubstanz zu verwenden, wie nur irgend möglich. „Im Bestand ist die verbrauchte Energie quasi schon vorhanden“, sagt er. Aber es gibt auch Nachteile: „Bauen im Bestand ist immer anstrengender und mit Neubau lässt sich mehr Geld verdienen.“Zudem gebe es immer „Kröten, die man schlucken muss“: Fachwerkhäuser seien schlecht isolierbar, in Plattenbauten fände sich manchmal Asbest. Aber: „Aus fast allem lässt sich etwas Wunderbares machen.“Zudem, sagt Kirschbaum, sorge die Herausforderung beim Sanieren und Umbauen für große Kreativität und effiziente Konzepte. Klar sei aber auch, dass auch neue Häuser und Wohnungen gebaut werden müssten. Zumal der Wunsch der Mehrheit der Deutschen nach dem neu gebauten Eigenheim weiter groß ist.
Während modernes Wohnen heute noch häufig mit viel Glas und Beton assoziiert wird, sieht Kirschbaum einen viel traditionelleren Baustoff als Zukunftsträger: „Holz, Holz und noch mal Holz“, sagt er. Auch wenn der Markt aktuell in der Krise stecke, führe kein Weg daran vorbei. Überhaupt wünscht Kirschbaum sich keine futuristisch anmutenden Konzepte, sondern ein „viel einfacheres, weniger technikgeprägtes Bauen“. Was zum Beispiel Isolierung, Verschattung und Belüftung angehe, zeige die Geschichte ausreichend verblüffend effiziente Konzepte. Beton bliebe dann eher für Werkshallen und Fabriken vorbehalten. Erste Hochhäuser aus Holz gibt es bereits, das höchste in Deutschland ist das 34 Meter hohe, zehnstöckige Skaio in Heilbronn. Treppenhaus und Fundament bestehen aus Brandschutzgründen aus
Stahlbeton, die Fassade ist mit Aluminium verkleidet. In Wien (HoHo, 84 Meter), Hamburg (Roots, 64 Meter), Tokio (Plyscraper W350, 350 Meter) oder Vancouver (Canada Earth Tower, 120 Meter) sollen Wolkenkratzer entstehen, die hauptsächlich aus Holz bestehen. Von den bereits bestehenden ist das Mjøstårnet im norwegischen Brumunddal das höchste Holzhochhaus. Auf 18 Stockwerken und 85,4 Metern Höhe sind dort Hotelzimmer, Büros, ein Restaurant, ein Veranstaltungssaal, 33 Wohnungen und eine Dachterrasse untergebracht. Kirschbaum sieht bei der
Finanzierung von Sanierungsarbeiten und Neubauten für bezahlbaren Wohnraum den Staat in der Pflicht. „Was passiert, wenn die Preise unbezahlbar werden, sehen wir in den französischen Banlieues. Menschen mit niedrigen oder durchschnittlichen Einkommen werden verdrängt, was auch noch dazu führt, dass die Innenstädte aussterben“, sagt er.
Die Politik müsse deshalb die Fehler der Vergangenheit, als Sozialwohnungen massenhaft an private Investoren verkauft wurden, rückgängig machen und kräftig investieren. In Baden-Württemberg dürfte vielen Menschen ein solcher Verkauf von Wohnungen aus dem Jahr 2012 in Erinnerung geblieben sein. Damals verkaufte die zum Teil landeseigene Landesbank Baden-Württemberg (LLBW) 21 500 Wohnungen an das private Augsburger Immobilienunternehmen Patrizia. Es war bis dato einer der größten Immobiliendeals in Deutschland. Den Verkauf hatte die EU-Kommission als Bedingung für die Rettung der Bank durch Hilfsgelder verordnet.
„Wohnen ist kein Konsumgut, sondern eine existenzielle Frage. Aus meiner Sicht muss das auch nicht immer rentabel sein, da der
Wert einer funktionierenden Gesellschaft am Ende der Rechnung ohnehin größer ist“, erläutert Kirschbaum. Als positives Gegenbeispiel zu den französischen Städten nennt der Architekt Österreichs Hauptstadt Wien. Wien hat nicht Wohnungen verkauft, sondern neue gebaut. Mittlerweile sind 220 000 Wohnungen direkt im Besitz der Stadt, mehr als in jeder anderen Stadt der Welt. 62 Prozent der Wiener leben in einer geförderten oder kommunalen Wohnung. „Das Ergebnis ist eine boomende Stadt mit bezahlbaren Mieten“, sagt Kirschbaum. Weil die Stadt seit Jahren Grundstücke aufkauft und neues Bauland nur unter Eigentumsvorbehalt vergibt, gilt auch Ulm als Vorreiter in Sachen sozialer Wohnungsbau. Die Mieten und Grundstückspreise liegen dort unter dem Durchschnitt und weit unter denen in der Landeshauptstadt Stuttgart.
Detlef Gürtler, Zukunftsforscher am Schweizer Gottlieb-DuttweilerInstitut in Rüschlikon bei Zürich, plädiert ebenfalls für den Umbau vorhandener Häuser. „Allein schon aus ökologischen Gründen sollten wir so wenig neu bauen wie möglich.“Für dennoch notwendige Neubauten sieht auch Gürtler im natürlichen Rohstoff Holz das Baumaterial der Stunde. Doch nur weil sich durch mehr Singlehaushalte und neue Wohnformen die Bedürfnisse änderten, müsse man nicht auf das verzichten, was bereits besteht. „Häuser halten klassischerweise länger als Lebensstile“, sagt er. „Wir brauchen kleinere Wohnungen für Singles, aber dafür reicht manchmal eine neue Einteilung aus.“Als mögliches Beispiel sieht Gürtler leerstehende Ladengebäude. „Klassischerweise haben wir in Innenstädten unten den Laden, darüber die Arztpraxis. Warum sollte nicht die Praxis ins Erdgeschoss ziehen und im oberen Stockwerk entstehen aus der alten Praxis Wohneinheiten?“Überhaupt müsse das Wohnen und Bauen flexibler werden, fordert er. „In vielen Teilen der Welt gibt es in der Wohnung keine Küche. Gegessen wird in Restaurants, per Lieferdienst oder an Streetfood-Ständen. Wir können daraus Modelle mit Gemeinschaftsküchen ableiten, für die eigene Wohnung reicht vielen Menschen vielleicht eine Mikrowelle aus.“Auch das Waschen der Wäsche könne gut ausgelagert werden.
„Kollektives Wohnen" nennt Gürtler das. Durch die eigene Wohneinheit könne, gerade für Singles, gleichzeitig die Privatsphäre erhalten und durch Gemeinschaftsräume das Sozialleben gestärkt werden. Für das notwendige Naturerlebnis sollen in Gürtlers Vorstellung der Stadt der Zukunft großzügige Parks sorgen. „Ich glaube, dass Menschen Grün brauchen." Eine Forsa-Umfrage aus dem Februar bestätigt diese These: 92 Prozent der Befragten gaben dabei an, dass mehr Grün in den Städten die Aufenthaltsqualität verbessern würde. Eine Einschätzung, die die Soziologin und Autorin Christa Müller teilt. Mehrere Bücher hat sie zum Thema Urban Gardening, der Nutzung städtischer Flächen für Gartenbau, veröffentlicht. Gemeinschaftsgärten, in denen die Menschen der Natur, sich selbst und sich gegenseitig begegnen können, sieht sie als Modell der Zukunft. „Der Mensch braucht Zugang zur Natur, um sich selbst als Teil von ihr zu begreifen“, sagt sie.
Doch nicht nur soziologische Aspekte spielen für sie eine Rolle, sondern auch die Bedeutung von Grünflächen für Artenund Klimaschutz. Dafür wünscht sich die Autorin klare politische Visionen und Eingriffe: „Wir können uns nicht allein auf den Markt verlassen. Ein demokratisches Zusammenleben bedeutet nicht, dass jeder ohne Rücksicht seine Partikularinteressen durchsetzen kann.“Politische Regelungen etwa zu verpflichtenden Grünanteilen auf neuen Grundstücken seien besonders deshalb notwendig, weil die Natur in der Stadt mit Bauflächen und Versiegelung in Konkurrenz stehe. „Auch die fehlende Verkehrswende geht auf Kosten der Grünflächen. Die Autos werden immer größer statt kleiner und brauchen mehr Platz“, sagt sie. Die Lösung? „Die Autos müssen im Endeffekt raus aus den Innenstädten. Auch Elektroantriebe verkleinern den Platzbedarf nicht.“Deutschlandweit gibt es in vielen Städten derzeit Debatten um autofreie Innenstädte. Initiativen wie „Berlin autofrei“etwa wollen Pkw größtenteils verbannen. Gegner, darunter die ehemalige SPD-Familienministerin Franziska Giffey, die aktuell für das Amt als Bürgermeisterin in Berlin kandidiert, halten das für „wirklichkeitsfremd“. Proteste wie die Diesel-Demos der vergangenen Jahre in Stuttgart zeigen, dass längst nicht alle Autofahrer darauf verzichten wollen, ihr Fahrzeug auch in Innenstädten zu nutzen. Umfragen zu dem Thema ergeben ein uneinheitliches Bild: Mal liegen die Gegner, mal die Befürworter von autofreien Innenstädten vorne.
Zumindest für urbane Gebiete zeigen die Modelle für Bau und Verkehr eine mögliche Zukunft auf. Doch auf dem Land sind die Voraussetzungen anders. Vielleicht mit ein Grund dafür, dass die Gesellschaft in Deutschland seit Mitte der Nullerjahre von einer Landflucht geprägt war. 250 000 Menschen zogen zwischen 2008 und 2014 vom Land in die Stadt, das ist das Ergebnis einer Studie des RWI-LeibnizInstituts für Wirtschaftsforschung.
Der Heidelberger Architekt Marc Kirschbaum sieht für die Zukunft nach Corona aber eine mögliche Trendwende. „Die Krise lässt sich in dieser Hinsicht als Chance begreifen“, sagt er. Sofern die Arbeitswelt es zulasse, könne ein vermehrter Trend zur Arbeit von zu Hause aus das Landleben attraktiver machen. „Der Impuls dafür muss aber von den Arbeitgebern kommen.“Sollten mehr Menschen aufs Land ziehen, könnten dort zwar die Preise weiter steigen, Kirschbaum sähe darin für das Land insgesamt aber einen „heilsamen Reflex“.
Doch auch auf dem Land bieten sich nach Ansicht der Experten Möglichkeiten, Vorhandenes zu nutzen. Alte Bauernhöfe könnten etwa für Wohnprojekte für digitale Nomaden oder Aussteiger genutzt werden. Marc Kirschbaum sieht ungenutztes Potenzial in vielen Einfamilienhäusern auf dem Land. „Besonders Senioren wohnen auf überdurchschnittlich vielen Quadratmetern, weil sie verständlicherweise das Eigenheim nicht verlassen wollen“, sagt er.
Durch den Einbau von Einliegerwohnungen oder sogenannte Wohnen für Hilfe – dabei wohnen Studentinnen und Studenten zu günstigen Konditionen mit Menschen zusammen, denen sie Arbeiten in Haushalt und Garten abnehmen – könnte leicht zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden, glaubt der Architekt.
„Allein schon aus ökologischen Gründen sollten wir so wenig neu bauen wie möglich.“
Zukunftsforscher Detlef Gürtler