Alpenüberquerung für (fast) alle
In sieben Etappen von Deutschland nach Italien
Bald ist die nördlichste Stadt Italiens erreicht. Nein, nein, die Rede ist nicht von München. Sondern von einer Stadt, in der zwar auch deutsch gesprochen wird, in der die Wappenfigur zwar auch eine Kapuze trägt und in der die malerische Altstadt zwar auch zum Bummeln einlädt. Anders als München fällt Sterzing mit seinen paar Tausend Einwohnern dann aber doch eine ganze Nummer kleiner aus, liegt dafür aber geografisch wie politisch auch tatsächlich in Italien. Bei dem Spaziergang durch die Südtiroler Stadt (italienisch: Vipiteno) führt Egon Moroder an bunt bemalten Fassaden und am Zwölferturm vorbei, in die Spitalkirche zum Heiligen Geist und das Rathaus hinein. Hier in Sterzing endet mit der siebten Etappe die Alpenüberquerung, die am Tegernsee gestartet ist. Wer alle Etappen bis aufs Letzte ausgereizt hat, hat dann mehr als 110 Kilometer und 3350 Höhenmeter zurückgelegt.
„Eine gelungene Weitwanderung braucht ein Ziel“, ist Georg Pawlata aus Innsbruck überzeugt. Einmal über die Alpen ist für viele Wanderer ein solches. Zu den Klassikern zählen die Strecken Oberstdorf-Meran und München-Venedig. Pawlata schätzt, dass es zehn, fünfzehn beliebte Routen zur Alpenüberquerung gibt. Sie alle fordern den Wanderern so einiges an Ausdauer und technischem Können ab. Ob sich im Kontrast dazu nicht auch eine Route schaffen lassen würde, die von so gut wie jedermann bewältigt werden könnte?
Pawlata hat getüftelt und getüftelt, überlegt welche Wege sich gut kombinieren lassen und schließlich die vier Regionen Tegernsee, Achenkirch , Zillertal und Sterzing an einen Tisch gebracht. Seit 2014 existiert nun die Alpenüberquerung vom Tegernsee nach Sterzing. Sie greift nur auf vorhandene Wanderwege zurück und setzt sich aus sieben Etappen zusammen. Immer wieder sind auch Abkürzungen oder Umgehungen möglich, sollten Wetter oder Gesundheit dies erfordern. Etwa 120 Tage umfasst die Saison der Alpenüberquerung. Normalerweise kann es in der zweiten Juniwoche losgehen, wenn der Restschnee einigermaßen weg ist. Anfang Oktober endet die Saison.
Auch wenn die Anforderungen der bequemen Alpenüberquerung weit unter denen anderer Routen liegen, sollten Interessierte sich natürlich dennoch entsprechend darauf vorbereiten. Wer über keine Grundfitness verfügt, keine längeren Etappen gewohnt ist, nie an aufeinanderfolgenden Tagen wandert, bei schlechtem Wetter lieber im Haus bleibt, wird sich schwertun. „Ich empfehle in den zwei Monaten vor der Tour mindestens zweimal pro Woche die Ausdauer zu trainieren: Einmal davon längere Bewegungseinheiten, beispielsweise Radtouren oder Wanderungen, wenn möglich auf und ab“, sagt Pawlata.
So startet eine bunt zusammengewürfelte Truppe an einem sonnigen Tag am Bahnhof Gmund, an der Nordseite des Tegernsees gelegen. Zur Einstimmung geht es auf dem
Tegernseer Höhenweg entlang, von hier aus bietet sich immer wieder ein reizvoller Blick auf das Gewässer. Und weil es an Seen so atmosphärisch ist, führt auch die dritte Etappe an einem Ufer entlang. Inzwischen sind wir in Tirol in Österreich und wandern von Achenkirch aus am Westufer des Achensees entlang. Einen Zwischenstopp soll es an der Gaisalm geben, der einzigen Alm Tirols, die man nur zu Fuß oder mit dem Schiff erreichen kann.
Sind wir am Nachmittag noch im Sonnenschein gewandert, sind die Aussichten für die nächste Etappe schlecht. Das Wetter soll sich von seiner ungemütlichen Seite zeigen. Die geplante Überquerung des Alpenhauptkamms wird wohl ausfallen müssen. Sicherheit geht selbstverständlich vor, trotzdem ist es enttäuschend, auf einen so elementaren Teil der Route verzichten zu müssen. Am nächsten Morgen ist der Bergführer dann doch etwas optimistischer gestimmt. Wir wagen den Versuch, zum Pfitscherjochhaus auf 2275 Metern aufzusteigen. Alle haben sich in ihre wind- und wasserfeste Montur geworfen, und so beginnt nun der Aufstieg. Allzuweit kommen wir nicht. Mit jedem Höhenmeter wird die Lage garstiger. Minusgrade, Regen, Schnee und Wind machen das Vorankommen schwer. Und so drehen wir nach von der Sportuhr mehr oder weniger genau gemessenen 282 Höhenmetern um. Eigentlich hätten es laut Tourbeschreibung 500 werden sollen. Doch es hilft nichts, sich nach dem Idealszenario zu sehnen. Dann muss das nächste
Ziel eben lauten: Dach überm Kopf, heißer Tee, raus aus den nassen Klamotten, rein in die hoffentlich noch trockenen Wechselklamotten aus dem Rucksack. Denn inzwischen schüttet es. Unablässig prasselt der Regen, am Boden haben sich längst Pfützen und Rinnsale gebildet. Da kann auch der Schirm nicht mehr viel ausrichten. Im Gasthof Stein schält sich dann jeder aus durchnässter Bekleidung und freut sich über etwas Warmes im Magen. Und während unsere Komfort-Wander-Truppe wieder zu Kräften kommt, teilt den Tisch ein junger Mann, der die Alpenüberquerung eine Spur sportlicher angeht: ohne Gepäcktransport, ohne Hotelübernachtungen, dafür mit jeder Menge Enthusiasmus und jeder Menge Gepäck.
Bei der letzten Etappe zeigt sich das Wetter wieder etwas versöhnlicher, wenn auch noch mit Minusgra- den. Mit dem Bus geht es bis Novale, um ein paar Kilometer abzukürzen. Und von dort führt der Weg überwiegend – bis auf ein paar kleine Gegenanstiege – hinab. An lauschigen Bächen, an neugierigen Kühen und den typischen Steinkirchen vorbei. Zehn Kilometer sind es noch bis Sterzing.