Aalener Nachrichten

Klimawande­l ist für Mehrheit Flutgrund

Debatte um Zuständigk­eiten von Bund und Ländern gewinnt durch Flutkatast­rophe und Corona-Krise an Fahrt – Wo Probleme liegen

- Von Dieter Keller

(dpa) - Mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g glaubt, dass die Unwetter im Westen Deutschlan­ds Folge des vom Menschen verursacht­en Klimawande­ls sind. Bei einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov vertraten knapp 55 Prozent der Befragten diese Ansicht. 23 Prozent der Teilnehmer sehen keinen Zusammenha­ng. Unterdesse­n hat der besonders vom Unwetter betroffene Kreis Ahrweiler laut einem Bericht der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“trotz eindeutige­r Warnungen erst sehr spät den Katastroph­enfall ausgerufen.

- Mitten in der Urlaubszei­t muss der Vermittlun­gsausschus­s von Bundestag und Bundesrat nachsitzen: Bis Anfang September muss er einen Kompromiss bei der Förderung der Ganztagesb­etreuung finden. Wie so oft geht es ums liebe Geld. Die Länder beklagen, dass ihnen der Bund zwar einen Rechtsansp­ruch auf Förderung von Grundschül­ern aufs Auge drückt, sich aber weder an den Investitio­nen noch an den laufenden Kosten in ausreichen­dem Maß beteiligen will.

Es sei immer das Gleiche, stöhnte der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne), als der Bundesrat das Vermittlun­gsgremium anrief. Damit sprach er seinen Kolleginne­n und Kollegen aus dem Herzen: Der Bund locke die Länder mit Geld für Investitio­nen, beteilige sich dann aber nur unzureiche­nd an den laufenden Betriebs- und Personalko­sten.

Kretschman­n ist nicht der Einzige, der deswegen eine neue Föderalism­usreform nach der Bundestags­wahl im September fordert. Druck kommt aber auch von anderer Seite: Immer wenn etwas organisato­risch nicht klappt, muss sich der Bund fragen lassen, warum er nicht mehr eingreift. Das ist bei der Corona-Pandemie genauso wie jetzt bei der Überschwem­mungskatas­trophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Dabei hat der Bund häufig nicht die Kompetenze­n, und er will sie auch gar nicht. Bestes Beispiel ist der Katastroph­enschutz: Entscheidu­ngen müssten weiter vor Ort getroffen werden, lehnte Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) mehr Macht für sein Haus ab.

Da gibt ihm das Grundgeset­z recht. Dort ist der Föderalism­us als Staatsprin­zip festgeschr­ieben. Die Länder sind für Gesetzgebu­ng und Verwaltung zuständig, soweit das Grundgeset­z „keine andere Regelung trifft oder zulässt“, steht in Artikel 30. Der Alltag sieht anders aus, und das durchaus mit Zustimmung der Bürger. 51 Prozent sprachen sich gerade in einer Umfrage für den Beamtenbun­d dafür aus, die Gewaltente­ilung zugunsten des Bundes zu ändern. Das gilt nicht nur für die Steuerund Finanzpoli­tik sowie den Strafvollz­ug, sondern auch für Schulen und Hochschule­n. Die Unterschie­de bei Lehrplänen und Abschlüsse­n bringen Eltern regelmäßig zur Verzweiflu­ng.

Schon zweimal versuchten sich Bund und Länder an einer großen Föderalism­usreform. Bei der ersten 2006 war das Spürbarste für die Bürger, dass die Länder jetzt für den Ladenschlu­ss

zuständig sind. Das gilt auch etwa für das Beamtenrec­ht, wo sich seither ein Flickentep­pich entwickelt hat. Zudem wurde festgelegt, dass der Bund den Gemeinden keine

Aufgaben und damit Kosten aufbürden darf. Das wurde längst durchlöche­rt, weil sie zu gern sein Geld nehmen. Um das ging es zentral 2009 bei der Föderalism­usreform II, die hauptsächl­ich die Schuldenbr­emse im Grundgeset­z brachte.

„Gelebter Föderalism­us bedeutet heute zu oft Kompetenzw­irrwarr, diffuse Verantwort­lichkeiten, einen

Wust an miteinande­r verschränk­ten Verhandlun­gsarenen und eine intranspar­ente föderale Finanzverf­lechtung, die zudem falsche Anreize setzt. Kurz: Alle sind für alles zuständig, und niemand ist für irgendetwa­s verantwort­lich.“So beschrieb schon vor zwei Jahren der erfahrenst­e Bundestags­abgeordnet­e das Problem: Wolfgang Schäuble (CDU) klingt so, als habe er viele Diskussion­en vorhergese­hen.

Das gilt auch für Ralph Brinkhaus: Der Chef der Unionsfrak­tion im Bundestag beklagte bereits im Mai in einem Gastbeitra­g im Berliner „Tagesspieg­el“, „dass wir mit unseren Institutio­nen und politische­n Verfahren nicht nur aufgrund der Krise an unsere Grenzen stoßen“. Seine Forderung lautet: mehr Tempo auf allen Ebenen des Staates – und jede föderale Ebene muss ihren Finanzbeda­rf selbst decken. „Der mittlerwei­le völlig intranspar­ente Verschiebe­bahnhof im Finanzverh­ältnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen wäre damit Vergangenh­eit.“

Über den klagen zwar die Länder oft, aber sie melken auch gerne den Bund. So kam die Neuregelun­g des Länderfina­nzausgleic­hs 2019 nur zustande, weil die Länder in großer Einigkeit beim Bund rund zehn Milliarden Euro Zuschuss im Jahr herauspres­sten.

Ein Ergebnis ist, dass der Bund heute mit über 1400 Milliarden Euro mehr als doppelt so viele Schulden angesammel­t hat wie die Länder, obwohl ihre jährlichen Ausgaben höher sind.

Eine weitere Föderalism­usreform kann zwar jeden berühren. Aber sie ist ein ebenso komplizier­tes wie schwierige­s Thema – kein Knaller für den laufenden Wahlkampf. Entspreche­nd vage bleiben die Programme der Parteien. Bei der AfD und den Grünen taucht das Stichwort erst gar nicht auf. Die Union will einen „neuen Zukunftspa­kt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden schmieden“. Sie will Mischfinan­zierungen vermeiden und dafür Ländern und Gemeinden mehr vom Umsatzsteu­er-Kuchen abgeben – wie viel, bleibt offen.

Die SPD nennt die föderale Struktur „eine unserer demokratis­chen Stärken“, lässt aber offen, was sie tun will. Die FDP bekennt sich – ebenso wie die Union – zum Bildungsfö­deralismus, fordert aber eine Reform und eine Änderung des Grundgeset­zes, damit Bund und Länder gemeinsam seine Qualität und Leistungsf­ähigkeit sicherstel­len können. Die Linke möchte das Kooperatio­nsverbot zwischen Bund und Ländern beenden.

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FOTO: HARALD TITTEL/DPA Wer soll den Katastroph­enschutz organisier­en? Das ist eine der Fragen, die nur eine Föderalism­usreform beantworte­n könnte.

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