Baden-Württemberg plant Abkehr vom Inzidenzwert
Auch der Bund präsentiert Pandemie-Pläne – Astrazeneca-Dosen werden verschenkt
(dpa/AFP) Weiterhin Masken, mehr Impfungen, mögliche neue Einschränkungen: Vor den Beratungen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten in der kommenden Woche hat das Ringen um den Corona-Kurs für Herbst und Winter begonnen. Denn inmitten der relativ entspannten Sommerwochen für die meisten Bürger breiten sich neue Infektionen schon wieder besorgniserregend schnell aus. Das Gesundheitsministerium von Ressortchef Jens Spahn (CDU) legte jetzt einen Bericht vor – und listete Vorschläge auf, um die vierte Welle flach zu halten. Unter anderem heißt es darin, dass die Maskenpflicht „bis ins Frühjahr 2022“verlängert werden soll.
In Baden-Württemberg plant unterdessen das Gesundheitsministerium eine Abkehr von der Zahl der Neuinfektionen als Grenzwert im Kampf gegen die Pandemie. „Als Richtwert für die Auslösung von Beschränkungen wird die Inzidenz nach unserer Ansicht ab Mitte September in den Corona-Verordnungen nicht mehr auftauchen“, sagte Minister Manfred Lucha (Grüne) der „Stuttgarter Zeitung“und den „Stuttgarter Nachrichten“. Es brauche einen Paradigmenwechsel, wenn vom 15. September an alle im Land ein Impfangebot erhalten hätten. Dann könne es keine Beschränkung der Freiheitsrechte von Doppeltgeimpften mehr geben.
Ungeimpfte müssten sich hingegen auf Beschränkungen – etwa die Verpflichtung zum Schnelltest bei Restaurantbesuchen – einstellen. Selbstverständlich würde man die Entscheidung der Ministerpräsidentenkonferenz am 10. August abwarten und einbeziehen, fügte Gesundheitsminister Lucha hinzu. Eine Sprecherin sagte, dass man dann mit steigenden Infektionszahlen rechnen müsse. Für Beschränkungen solle dann die Inzidenz keine Rolle mehr spielen, stattdessen etwa die Hospitalisierung.
Die Rolle des Inzidenzwerts wird schon länger diskutiert. Südwest-Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte zuletzt immer wieder betont, dass der Inzidenzwert im Kampf gegen die Pandemie eine zentrale Größe bleiben werde, auch wenn man sich nun auch auf andere Kriterien stützen werde. Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU) hatte diese Haltung ebenfalls immer wieder vertreten.
Am Donnerstag wurde zudem bekannt, dass Deutschland ab sofort alle noch ausstehenden Impfstofflieferungen des britischen Herstellers Astrazeneca direkt an die internationale Impf-Initiative Covax spenden wird. Laut Bundesgesundheitsminister Spahn betrifft dies in einem ersten Schritt 1,3 Millionen Dosen. Covax versorgt Entwicklungsländer mit Impfstoffen gegen das Coronavirus.
Von Dominik Guggemos und dpa
- Wie geht Deutschland in den Corona-Herbst? Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat in einem Schreiben an die Länderchefs die Pläne der Bundesregierung vorgestellt. Diskutiert und beschlossen werden sollen die Maßnahmen bei der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin am kommenden Dienstag. Baden-Württemberg will unterdessen genauer darauf achten, wer trotz Präsenzunterricht daheim lernen will. Ein Überblick über die wichtigsten Überlegungen.
Droht erneut ein Lockdown?
Zumindest nicht so, wie ihn Deutschland von Herbst bis Frühjahr kannte. „Unser aller Ziel muss es ja sein, einen weiteren harten Lockdown zu verhindern“, sagte Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Dafür soll aber, unabhängig von der Inzidenz, ab Anfang bis Mitte September für viele Veranstaltungen die „3G-Regel“gelten, also dass man entweder geimpft, genesen oder getestet sein muss, um teilnehmen zu dürfen. In dem Spahn-Papier werden dahingehend Innengastronomie, körpernahe Dienstleistungen, Veranstaltungen drinnen sowie Großveranstaltungen drinnen und draußen genannt. Derzeit gehen die Bundesländer unterschiedlich mit der „3GRegel“um.
Werden die Corona-Tests bald kostenpflichtig?
Wenn es nach der Bundesregierung geht: ja. „Wir halten Mitte Oktober für einen guten Zeitpunkt, um die Tests nicht mehr kostenlos anzubieten“, sagte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums. Ausnahmen soll es für Menschen geben, für die es keine Impfempfehlung gibt, wie Kinder unter 18 Jahren und Schwangere.
Ungeimpfte dürfen aber weiterhin alles machen, wenn sie sich testen lassen?
Das hängt von der pandemischen Lage ab. Je nach Inzidenz und der Rate schwerer Klinikfälle könnte es für ungeimpfte Menschen erneut zu Kontaktbeschränkungen kommen. Außerdem könnte dann die „2G-Regel“greifen. Das würde bedeuten, dass nur noch Geimpfte und Genesene zu Veranstaltungen oder die Gastronomie nutzen dürfen. Also doch eine Impfpflicht durch die Hintertür? Regierungssprecherin Demmer verneint. Geimpfte würden laut zahlreichen Studien deutlich weniger zum Infektionsgeschehen beitragen als Getestete. „Inwiefern unterschiedliche Gruppen unterschiedlich behandelt werden“, sagt Demmer, „sollte auf einer wissenschaftlichen Beurteilung basieren.“
Und die Maskenpflicht?
Soll nach dem Wunsch der Bundesregierung weit über den Herbst hinaus bleiben. „Die Notwendigkeit zum verpflichtenden Tragen einer medizinischen Schutzmaske ergibt sich bis ins Frühjahr 2022“, heißt es in dem Papier. Das gelte vor allem im Nahverkehr und im Einzelhandel und auch für Geimpfte und Genesene.
Eine neue Studie hat die Auswirkungen von Covid-19 auf Kinder untersucht. Zu welchem Ergebnis kommt sie?
Zu sehr vielversprechenden. Kinder zwischen fünf und 17 Jahren, die eine symptomatische Erkrankung mit Covid-19 hatten, waren im Durchschnitt nach sechs Tagen wieder gesund. Das zeigt eine Studie britischer Forscher, die die Krankheitsverläufe von 1734 Heranwachsenden untersucht hat, basierend auf Angaben der Eltern. Die Studie wurde im renommierten Fachmagazin „The Lancet Child & Adolescent Health“veröffentlicht. Allerdings wurden nur Daten bis Ende Februar ausgewertet, womit unklar bleibt, ob sich die Erkenntnisse auch auf die Delta-Variante übertragen lassen.
Welche Länder haben die Pandemie besonders effektiv bekämpft?
Laut der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg Norwegen und die Schweiz. Die beiden Länder landen in dem Ranking, das zeigen soll, „wo das Virus am effektivsten und mit der geringsten sozialen und wirtschaftlichen Störung gehandhabt wird“, auf Platz eins und zwei. Deutschland folgt auf Rang zwölf – immerhin 16 Plätze besser als noch im Juni.
Was plant der Südwesten für die Schulen?
Im vergangenen Schuljahr konnten Eltern ihre Kinder wegen Corona zu Hause online unterrichten lassen – das ist ab Mitte September nur noch sehr eingeschränkt möglich. „Für die Befreiung vom Präsenzunterricht bedarf es im neuen Schuljahr besonderer, durch ein ärztliches Attest bestätigter Gründe“, sagte der Bildungsdezernent des Städtetags Norbert Brugger. Im vergangenen Schuljahr genügte eine formlose Abmeldung vom Präsenzunterricht durch die Eltern oder durch die volljährigen Schüler. Der Umfang dieser Fälle war aber mit einem Prozent aller Schüler sehr gering. In diesem vom Kultusministerium im vergangenen Oktober erhobenen Prozentsatz sind nicht nur die aus gesundheitlichen Gründen Befreiten, sondern auch solche Kinder und Jugendliche enthalten, die aus dem Radar der Lehrer verschwanden. Diese wieder „einzufangen“und etwaige Lernrückstände aufzuholen, sei ein Grund für die jetzt striktere Handhabung, sagte ein Ministeriumssprecher am Mittwoch. Die rund 1,5 Millionen Schüler erwartet zudem vom Schulbeginn am
13. September bis einschließlich
26. September eine Maskenpflicht – unabhängig von der aktuellen SiebenTage-Inzidenz. Grund: Schutz vor der Ausbreitung von Virusvarianten durch Reiserückkehrer.