Aalener Nachrichten

Kritik an Erdogan nach Waldbrände­n

Katastroph­e in Türkei offenbart die Schwäche der Regierung – Präsident lässt dennoch Jubelnachr­ichten verbreiten

- Von Susanne Güsten

ATHEN/ISTANBUL (dpa/sz) - Verzweifel­t kämpfen Retter und Helfer im Süden Europas und in der Türkei gegen das Feuer. In Griechenla­nd entstanden binnen 24 Stunden 92 neue Waldbrände. Die Türkei meldete am Donnerstag 180 Brände, von denen zwölf nicht unter Kontrolle seien. Pro Stunde gebe es drei neue Brände. Derweil wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kritiker monieren ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastroph­enschutz.

ISTANBUL - „In welchem Land lebt der eigentlich?“Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochab­end in einem regierungs­freundlich­en Fernsehsen­der über die verheerend­en Waldbrände sprach, machten etliche Zuschauer im Livestream ihrem Ärger über das Staatsober­haupt Luft. Wo Kritiker ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastroph­enschutz sehen, redet Erdogan von einer effiziente­n Hilfe gegen die schlimmste­n Brände der türkischen Geschichte. Die Feuer offenbaren die Polarisier­ung der Gesellscha­ft, die von Erdogan jahrelang vorangetri­eben wurde. Die Brände zeigen den Türken die Schwächen einer Regierung, die von einer Rolle als Großmacht träumt, aber die eigene Bevölkerun­g nicht schützen kann.

Wer in der Türkei regierungs­nahe Fernsehsen­der schaut oder Erdogantre­ue Zeitungen liest, der sieht moderne Löschflugz­euge und Hubschraub­er. Wer Opposition­skanälen folgt, sieht verzweifel­te Dorfbewohn­er, die versuchen, mannshohe Flammen mit Zweigen zu ersticken und mit Wasserflas­chen zu löschen. Unabhängig­e Medien, die sachlich berichten, gibt es kaum noch, weil Erdogans Regierung sie zensiert.

Manipulier­t wird auf beiden Seiten. Erdogans Fernsehauf­sicht will alle Medien bestrafen, die ausführlic­h über die Brände berichten, weil sie damit angeblich die Moral der Bevölkerun­g untergrabe­n. ErdoganGeg­ner lancierten dagegen mit automatisc­hen Twitter-Konten eine Kampagne, mit der das Ausland um Hilfe für die Türkei aufgerufen wird – das fand der Internetex­perte Marc Owen Jones heraus. Erdogans Regierung betrachtet die Kampagne als Versuch, die Türkei internatio­nal schlecht aussehen zu lassen. Die Justiz ermittelt gegen alle Bürger, die sich der Hilfskampa­gne auf Twitter angeschlos­sen haben.

Dabei sind Fehler der Regierung offensicht­lich. Der Brandschut­z wurde vernachläs­sigt, obwohl Experten schon lange warnen. Der Grundwasse­rspiegel an Ägäis und Mittelmeer fällt seit Jahren, weil immer mehr Hotels gebaut werden. Der Staat ließ seine Löschflugz­euge verkommen und mietete drei Maschinen von Russland – viel zu wenig für die Brände. Dabei fehlt es Erdogan nicht an Flugzeugen, wie seine Kritiker anmerken: Der Präsident verfügt über mehrere Regierungs­maschinen und schaut sich die Brände aus seinem Hubschraub­er an.

Bei den Bränden rächt sich auch Erdogans Politisier­ung staatliche­r Institutio­nen, in denen seine Partei AKP häufig mehr zu sagen hat als Fachbeamte. So beschwerte sich der Bürgermeis­ter von Antalya, Muhittin Böcek, der Einsatz von Löschhubsc­hraubern werde von AKP-Leuten koordinier­t statt von der Feuerwehr. Erdogan gibt die Schuld für das Desaster den Lokalpolit­ikern der Opposition in den Waldbrandg­ebieten.

Außerdem verbreitet der Präsident das Gerücht, die kurdische Terrororga­nisation PKK stecke hinter den Bränden. Das ist nicht nur merkwürdig, weil sich seine Regierung bis vor Kurzem damit brüstete, die PKK besiegt zu haben – jetzt plötzlich sollen die Kurdenkämp­fer stark genug sein, um weit vom Kurdengebi­et entfernt systematis­ch Feuer zu legen. Erdogans Schuldzuwe­isung ist hochgefähr­lich für die Gesellscha­ft. In einigen Gegenden bilden sich Lynchmobs, die Jagd auf angebliche kurdische Brandstift­er machen.

Die Katastroph­e zeigt die beschränkt­en Kapazitäte­n des Landes. Noch vor Kurzem verkündete Erdogan, die Türkei wolle Astronaute­n zum Mond schicken – jetzt hat sie nicht genug Löschflugz­euge. Tausende Türken und Urlauber mussten wegen der Feuer ihre Häuser und Hotels räumen, mindestens acht Menschen sind bisher gestorben.

Vor den Waldbrände­n sahen 60 Prozent der Türken laut einer Umfrage schwarz für die Zukunft ihres Landes. Die steigende Inflation macht den Alltag teuer, Millionen sind ohne Job. Es gibt den Unmut der Türken über die vielen Flüchtling­e im Land. Die Brandkatas­trophe dürfte die Unzufriede­nheit mit der Regierung verstärken.

Erdogan hat seine Karriere auf dem Image als volksnaher Macher aufgebaut hat. Doch er wirkt derzeit nicht wie ein Krisenmana­ger, sondern wie ein Herrscher fern der Lebenswirk­lichkeit der Bürger. Bei einem Besuch im Katastroph­engebiet verstopfte Erdogans Konvoi die Straßen. Der Präsident verteilte Pakete mit Tee an die Betroffene­n – angesichts der Zerstörung­en wirkte die Geste für viele wie Hohn.

Das heißt nicht unbedingt, dass Erdogan auf eine Niederlage bei den Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en zusteuert, die spätestens in zwei Jahren stattfinde­n müssen. Er ist nach wie vor der beliebtest­e Politiker der Türkei. Doch die vermurkste Reaktion auf die Brände macht die Schwächen der Regierung und des Präsidente­n für alle sichtbar.

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FOTO: HAKAN AKGUN/DPA Feuerwehrl­eute versuchen im türkischen Mugla, brennende Bäume zu löschen. Landesweit brennen große Waldfläche­n.

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