Kritik an Erdogan nach Waldbränden
Katastrophe in Türkei offenbart die Schwäche der Regierung – Präsident lässt dennoch Jubelnachrichten verbreiten
ATHEN/ISTANBUL (dpa/sz) - Verzweifelt kämpfen Retter und Helfer im Süden Europas und in der Türkei gegen das Feuer. In Griechenland entstanden binnen 24 Stunden 92 neue Waldbrände. Die Türkei meldete am Donnerstag 180 Brände, von denen zwölf nicht unter Kontrolle seien. Pro Stunde gebe es drei neue Brände. Derweil wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kritiker monieren ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastrophenschutz.
ISTANBUL - „In welchem Land lebt der eigentlich?“Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochabend in einem regierungsfreundlichen Fernsehsender über die verheerenden Waldbrände sprach, machten etliche Zuschauer im Livestream ihrem Ärger über das Staatsoberhaupt Luft. Wo Kritiker ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastrophenschutz sehen, redet Erdogan von einer effizienten Hilfe gegen die schlimmsten Brände der türkischen Geschichte. Die Feuer offenbaren die Polarisierung der Gesellschaft, die von Erdogan jahrelang vorangetrieben wurde. Die Brände zeigen den Türken die Schwächen einer Regierung, die von einer Rolle als Großmacht träumt, aber die eigene Bevölkerung nicht schützen kann.
Wer in der Türkei regierungsnahe Fernsehsender schaut oder Erdogantreue Zeitungen liest, der sieht moderne Löschflugzeuge und Hubschrauber. Wer Oppositionskanälen folgt, sieht verzweifelte Dorfbewohner, die versuchen, mannshohe Flammen mit Zweigen zu ersticken und mit Wasserflaschen zu löschen. Unabhängige Medien, die sachlich berichten, gibt es kaum noch, weil Erdogans Regierung sie zensiert.
Manipuliert wird auf beiden Seiten. Erdogans Fernsehaufsicht will alle Medien bestrafen, die ausführlich über die Brände berichten, weil sie damit angeblich die Moral der Bevölkerung untergraben. ErdoganGegner lancierten dagegen mit automatischen Twitter-Konten eine Kampagne, mit der das Ausland um Hilfe für die Türkei aufgerufen wird – das fand der Internetexperte Marc Owen Jones heraus. Erdogans Regierung betrachtet die Kampagne als Versuch, die Türkei international schlecht aussehen zu lassen. Die Justiz ermittelt gegen alle Bürger, die sich der Hilfskampagne auf Twitter angeschlossen haben.
Dabei sind Fehler der Regierung offensichtlich. Der Brandschutz wurde vernachlässigt, obwohl Experten schon lange warnen. Der Grundwasserspiegel an Ägäis und Mittelmeer fällt seit Jahren, weil immer mehr Hotels gebaut werden. Der Staat ließ seine Löschflugzeuge verkommen und mietete drei Maschinen von Russland – viel zu wenig für die Brände. Dabei fehlt es Erdogan nicht an Flugzeugen, wie seine Kritiker anmerken: Der Präsident verfügt über mehrere Regierungsmaschinen und schaut sich die Brände aus seinem Hubschrauber an.
Bei den Bränden rächt sich auch Erdogans Politisierung staatlicher Institutionen, in denen seine Partei AKP häufig mehr zu sagen hat als Fachbeamte. So beschwerte sich der Bürgermeister von Antalya, Muhittin Böcek, der Einsatz von Löschhubschraubern werde von AKP-Leuten koordiniert statt von der Feuerwehr. Erdogan gibt die Schuld für das Desaster den Lokalpolitikern der Opposition in den Waldbrandgebieten.
Außerdem verbreitet der Präsident das Gerücht, die kurdische Terrororganisation PKK stecke hinter den Bränden. Das ist nicht nur merkwürdig, weil sich seine Regierung bis vor Kurzem damit brüstete, die PKK besiegt zu haben – jetzt plötzlich sollen die Kurdenkämpfer stark genug sein, um weit vom Kurdengebiet entfernt systematisch Feuer zu legen. Erdogans Schuldzuweisung ist hochgefährlich für die Gesellschaft. In einigen Gegenden bilden sich Lynchmobs, die Jagd auf angebliche kurdische Brandstifter machen.
Die Katastrophe zeigt die beschränkten Kapazitäten des Landes. Noch vor Kurzem verkündete Erdogan, die Türkei wolle Astronauten zum Mond schicken – jetzt hat sie nicht genug Löschflugzeuge. Tausende Türken und Urlauber mussten wegen der Feuer ihre Häuser und Hotels räumen, mindestens acht Menschen sind bisher gestorben.
Vor den Waldbränden sahen 60 Prozent der Türken laut einer Umfrage schwarz für die Zukunft ihres Landes. Die steigende Inflation macht den Alltag teuer, Millionen sind ohne Job. Es gibt den Unmut der Türken über die vielen Flüchtlinge im Land. Die Brandkatastrophe dürfte die Unzufriedenheit mit der Regierung verstärken.
Erdogan hat seine Karriere auf dem Image als volksnaher Macher aufgebaut hat. Doch er wirkt derzeit nicht wie ein Krisenmanager, sondern wie ein Herrscher fern der Lebenswirklichkeit der Bürger. Bei einem Besuch im Katastrophengebiet verstopfte Erdogans Konvoi die Straßen. Der Präsident verteilte Pakete mit Tee an die Betroffenen – angesichts der Zerstörungen wirkte die Geste für viele wie Hohn.
Das heißt nicht unbedingt, dass Erdogan auf eine Niederlage bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zusteuert, die spätestens in zwei Jahren stattfinden müssen. Er ist nach wie vor der beliebteste Politiker der Türkei. Doch die vermurkste Reaktion auf die Brände macht die Schwächen der Regierung und des Präsidenten für alle sichtbar.