EU ruft Taliban zur Waffenruhe auf
Der Vormarsch der Taliban ist für viele Menschen ein Risiko – Wie mit Flüchtlingen im Ausland Politik gemacht wird
BRÜSSEL (dpa) - Die EU hat die Konfliktparteien in Afghanistan zu einer sofortigen und umfassenden Waffenruhe aufgefordert. Die jüngste Eskalation der Gewalt durch die verstärkten Angriffe der Taliban verursache enormes Leid für die afghanische Bevölkerung und erhöhe die Zahl der Binnenflüchtlinge, kritisierten der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und EU-Kommissar Janez Lenarcic am Donnerstag. Sie drohten den Verantwortlichen in Afghanistan internationale Verfolgung an.
BERLIN - Es war absehbar: Seit dem Abzug westlicher Truppen in Afghanistan sind die radikal-islamischen Taliban auf dem Vormarsch und nehmen einen Distrikt nach dem anderen ein. An einer friedlichen Lösung für das Land haben sie kein Interesse, wie auch der jüngste Anschlag auf den afghanischen Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi zeigt. Viele Afghanen denken deshalb darüber nach, ihr Land zu verlassen, sollten die Taliban weiter an Macht gewinnen. Doch wohin können sie gehen? Ist der Westen darauf eingestellt, sichere Fluchtwege aus Afghanistan zu ermöglichen? Ist die Türkei die Lösung? Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was hat sich in Afghanistan in den vergangenen Wochen verändert? Nach 20 Jahren Präsenz haben die internationalen Truppen das Land am Hindukusch verlassen. Mit der Entscheidung der US-Regierung, ihre Soldaten nach Hause zu holen, war auch für andere Nato-Staaten wie Deutschland die Mission „Resolute Support“Ende Juni beendet. Profiteur des Abzugs sind ganz klar die Taliban. Seit die afghanische Armee nicht mehr durch die US-Luftwaffe unterstützt wird, haben die radikalen Muslime Oberwasser bekommen und inzwischen mehr als die Hälfte des Landes unter ihrer Kontrolle. Diese Machtverschiebung in Afghanistan ist nicht nur für jene ein Problem, die viele Jahre lang mit den ausländischen Kräften kooperiert oder für sie gearbeitet haben, sondern auch für die Teile der Bevölkerung, die nach dem vermeintlichen Sieg über die Taliban vor 20 Jahren Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten.
Muss der Westen mit einer neuen Flüchtlingsbewegung ähnlich wie im Jahr 2015 aus Syrien rechnen? Derzeit deutet nichts darauf hin. Die Situation für Menschen, die Afghanistan verlassen wollen, ist allerdings schwierig. „Es gibt sehr viele Afghanen, die vielleicht bei einem weiteren Vordringen der Taliban bald fliehen müssten, aber nicht fliehen können, weil sie nicht aus Afghanistan herauskommen “, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus, Vorsitzender des Think Tanks European Stability Initiative (ESI). Zum Teil hätten die Taliban die Straßen und Grenzen geschlossen, zum Teil weigern sich Nachbarländer wie Pakistan, weitere Flüchtlinge über die Grenze zu lassen. Pakistan hat bereits 1,4 Millionen Afghanen aufgenommen. Selbst wenn viele Afghanen eigentlich fliehen müssten, kämen wohl nur wenige Schutzsuchende in Europa an, sagt Knaus. Im ersten Halbjahr 2021 seien nur weniger als 600 Menschen aus Afghanistan irregulär über das Meer aus der Türkei in die EU gekommen.
Hilft Deutschland Menschen in Afghanistan, die für die Bundeswehr tätig waren?
Ja. Deutschland hat sich nach langer Debatte zwischen CDU und SPD bereit erklärt, Ortskräfte, die seit 2013 für Bundeswehr und Sicherheitsbehörden gearbeitet haben, aufzunehmen.
Warum reagiert die Türkei so allergisch auf die Idee, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen?
Die Flüchtlingspolitik ist zu einem zentralen Thema der türkischen Innenpolitik geworden. Fakt ist, dass das Land weltweit am meisten Flüchtlinge in den vergangenen zehn Jahren aufgenommen hat. Rund 3,6 Millionen Syrer und einige Hunderttausend andere Asylsuchende leben in der Türkei, darunter auch Afghanen. Die Opposition wirft dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, diese Menschen mit seiner Politik ins Land geholt zu haben, und fordert, sie auszuweisen. Die türkische Regierung reagierte mit dem Bau einer Betonmauer zu Iran. Der Migrationsforscher Knaus sieht derzeit in der Osttürkei keine Hinweise darauf, dass mehr afghanische Flüchtlinge als zuvor in die Türkei kämen. „Nach offiziellen türkischen Angaben wurden in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 30 000 Afghanen in der Türkei aufgegriffen, im Gesamtjahr 2019 waren es 200 000“, sagt er.
Welche Möglichkeiten haben Afghanen, außerhalb ihres Heimatlandes legal Zuflucht zu finden? Die Wege sind begrenzt. „Wenn ein Afghane nach Osten und Süden blickt, wird er bis einschließlich Australien in Asien kein Land finden, das der Genfer Flüchtlingskonvention entweder beigetreten ist oder sie heute anwendet“, sagt Knaus. „Weltweit wird sie systematisch gebrochen, liegt die UN-Flüchtlingskonvention im Koma.“Aber auch der Weg Richtung Westen verheißt für afghanische Flüchtlinge nichts Gutes. Iran hat nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) bereits etwa eine Million Flüchtlinge aus dem östlichen Nachbarland aufgenommen – und leidet unter einer Wirtschaftskrise. Auch die Türkei stößt Menschen zurück, ebenso die EU. „Seit Anfang 2020 werden Menschen systematisch von Griechenland in türkische Hoheitsgewässer zurückgeschoben, in Kroatien werden sie an der Grenze zu Bosnien mit Prügeln vertrieben“, sagt Knaus. Sprich: Auch in der Europäischen Union wird geltendes Recht gebrochen.
Wäre das derzeitige Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei ein Weg, Afghanen von der Flucht übers Mittelmeer abzuhalten?
Nein. Zunächst muss man feststellen, so Knaus, dass das Abkommen von 2016 mit der Türkei de facto keinen Bestand mehr hat. Die Europäische Union hatte im März 2016 mit der Türkei vereinbart, das Land vier Jahre lang mit sechs Milliarden Euro zu unterstützen, um die syrischen Flüchtlinge im Land menschenwürdig zu versorgen. Dieses Geld ist inzwischen fast aufgebraucht. An weitere Vereinbarungen, die getroffen wurden, halten sich seit Anfang 2020 weder die Europäische Union noch die Türkei. Knaus sieht deshalb nur eine Möglichkeit, Menschen die in Afghanistan von den Taliban akut bedroht sind, zu helfen: Europäische Staaten, die für eine humane Politik eintreten, müssten sich zusammentun und so wie die USA es angehen, mehr Schutzbedürftige legal aufnehmen. Dass sich auf diese Vorgehensweise, Resettlement (Umsiedlung) genannt, die EU als Ganzes verständigen könne, hält er nicht für realistisch. „Politiker, die wie der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz fordern, alle Afghanen sollten in der Türkei bleiben, die EU dieser dafür ein wenig Geld überweisen, aber selbst niemanden aufnehmen, gießen Öl ins Feuer der türkischen Debatte“, sagt Knaus. Das sei nicht praktikabel und fast zynisch. Es sei der Türkei, die ebenfalls unter einer Wirtschaftskrise leide, kaum zuzumuten, auf sich allein gestellt noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Warum werden nach wie vor Afghanen von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben?
Die Abschiebungen basieren auf der Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes, die ständig aktualisiert wird. Nach Angaben einer Ministeriumssprecherin werde zwar zur Kenntnis genommen, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan „in den letzten Wochen“verschlechtert hat, dennoch lehnt die Bundesregierung einen generellen Abschiebestopp ab. Die Bundesbehörden organisieren allerdings nur die Flüge, die Entscheidung, wer abgeschoben wird, liegt bei den Ländern – in deren Regierungen CDU/CSU, SPD, FDP, Linke und Grüne vertreten sind. Von dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und dem baden-württembergischen Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand wurde nun gefordert, die Abschiebungen auszusetzen, wie es bereits Norwegen, Schweden und Finnland gemacht haben. Bleibt abzuwarten, wie sich die grün-schwarze Landesregierung im Südwesten in dieser Frage positioniert.