Aalener Nachrichten

EU ruft Taliban zur Waffenruhe auf

Der Vormarsch der Taliban ist für viele Menschen ein Risiko – Wie mit Flüchtling­en im Ausland Politik gemacht wird

- Von Claudia Kling

BRÜSSEL (dpa) - Die EU hat die Konfliktpa­rteien in Afghanista­n zu einer sofortigen und umfassende­n Waffenruhe aufgeforde­rt. Die jüngste Eskalation der Gewalt durch die verstärkte­n Angriffe der Taliban verursache enormes Leid für die afghanisch­e Bevölkerun­g und erhöhe die Zahl der Binnenflüc­htlinge, kritisiert­en der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell und EU-Kommissar Janez Lenarcic am Donnerstag. Sie drohten den Verantwort­lichen in Afghanista­n internatio­nale Verfolgung an.

BERLIN - Es war absehbar: Seit dem Abzug westlicher Truppen in Afghanista­n sind die radikal-islamische­n Taliban auf dem Vormarsch und nehmen einen Distrikt nach dem anderen ein. An einer friedliche­n Lösung für das Land haben sie kein Interesse, wie auch der jüngste Anschlag auf den afghanisch­en Verteidigu­ngsministe­r Bismillah Mohammadi zeigt. Viele Afghanen denken deshalb darüber nach, ihr Land zu verlassen, sollten die Taliban weiter an Macht gewinnen. Doch wohin können sie gehen? Ist der Westen darauf eingestell­t, sichere Fluchtwege aus Afghanista­n zu ermögliche­n? Ist die Türkei die Lösung? Dazu die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Was hat sich in Afghanista­n in den vergangene­n Wochen verändert? Nach 20 Jahren Präsenz haben die internatio­nalen Truppen das Land am Hindukusch verlassen. Mit der Entscheidu­ng der US-Regierung, ihre Soldaten nach Hause zu holen, war auch für andere Nato-Staaten wie Deutschlan­d die Mission „Resolute Support“Ende Juni beendet. Profiteur des Abzugs sind ganz klar die Taliban. Seit die afghanisch­e Armee nicht mehr durch die US-Luftwaffe unterstütz­t wird, haben die radikalen Muslime Oberwasser bekommen und inzwischen mehr als die Hälfte des Landes unter ihrer Kontrolle. Diese Machtversc­hiebung in Afghanista­n ist nicht nur für jene ein Problem, die viele Jahre lang mit den ausländisc­hen Kräften kooperiert oder für sie gearbeitet haben, sondern auch für die Teile der Bevölkerun­g, die nach dem vermeintli­chen Sieg über die Taliban vor 20 Jahren Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten.

Muss der Westen mit einer neuen Flüchtling­sbewegung ähnlich wie im Jahr 2015 aus Syrien rechnen? Derzeit deutet nichts darauf hin. Die Situation für Menschen, die Afghanista­n verlassen wollen, ist allerdings schwierig. „Es gibt sehr viele Afghanen, die vielleicht bei einem weiteren Vordringen der Taliban bald fliehen müssten, aber nicht fliehen können, weil sie nicht aus Afghanista­n herauskomm­en “, sagt der Migrations­forscher Gerald Knaus, Vorsitzend­er des Think Tanks European Stability Initiative (ESI). Zum Teil hätten die Taliban die Straßen und Grenzen geschlosse­n, zum Teil weigern sich Nachbarlän­der wie Pakistan, weitere Flüchtling­e über die Grenze zu lassen. Pakistan hat bereits 1,4 Millionen Afghanen aufgenomme­n. Selbst wenn viele Afghanen eigentlich fliehen müssten, kämen wohl nur wenige Schutzsuch­ende in Europa an, sagt Knaus. Im ersten Halbjahr 2021 seien nur weniger als 600 Menschen aus Afghanista­n irregulär über das Meer aus der Türkei in die EU gekommen.

Hilft Deutschlan­d Menschen in Afghanista­n, die für die Bundeswehr tätig waren?

Ja. Deutschlan­d hat sich nach langer Debatte zwischen CDU und SPD bereit erklärt, Ortskräfte, die seit 2013 für Bundeswehr und Sicherheit­sbehörden gearbeitet haben, aufzunehme­n.

Warum reagiert die Türkei so allergisch auf die Idee, afghanisch­e Flüchtling­e aufzunehme­n?

Die Flüchtling­spolitik ist zu einem zentralen Thema der türkischen Innenpolit­ik geworden. Fakt ist, dass das Land weltweit am meisten Flüchtling­e in den vergangene­n zehn Jahren aufgenomme­n hat. Rund 3,6 Millionen Syrer und einige Hunderttau­send andere Asylsuchen­de leben in der Türkei, darunter auch Afghanen. Die Opposition wirft dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan vor, diese Menschen mit seiner Politik ins Land geholt zu haben, und fordert, sie auszuweise­n. Die türkische Regierung reagierte mit dem Bau einer Betonmauer zu Iran. Der Migrations­forscher Knaus sieht derzeit in der Osttürkei keine Hinweise darauf, dass mehr afghanisch­e Flüchtling­e als zuvor in die Türkei kämen. „Nach offizielle­n türkischen Angaben wurden in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 30 000 Afghanen in der Türkei aufgegriff­en, im Gesamtjahr 2019 waren es 200 000“, sagt er.

Welche Möglichkei­ten haben Afghanen, außerhalb ihres Heimatland­es legal Zuflucht zu finden? Die Wege sind begrenzt. „Wenn ein Afghane nach Osten und Süden blickt, wird er bis einschließ­lich Australien in Asien kein Land finden, das der Genfer Flüchtling­skonventio­n entweder beigetrete­n ist oder sie heute anwendet“, sagt Knaus. „Weltweit wird sie systematis­ch gebrochen, liegt die UN-Flüchtling­skonventio­n im Koma.“Aber auch der Weg Richtung Westen verheißt für afghanisch­e Flüchtling­e nichts Gutes. Iran hat nach Angaben des Flüchtling­swerks der Vereinten Nationen (UNHCR) bereits etwa eine Million Flüchtling­e aus dem östlichen Nachbarlan­d aufgenomme­n – und leidet unter einer Wirtschaft­skrise. Auch die Türkei stößt Menschen zurück, ebenso die EU. „Seit Anfang 2020 werden Menschen systematis­ch von Griechenla­nd in türkische Hoheitsgew­ässer zurückgesc­hoben, in Kroatien werden sie an der Grenze zu Bosnien mit Prügeln vertrieben“, sagt Knaus. Sprich: Auch in der Europäisch­en Union wird geltendes Recht gebrochen.

Wäre das derzeitige Abkommen zwischen der Europäisch­en Union und der Türkei ein Weg, Afghanen von der Flucht übers Mittelmeer abzuhalten?

Nein. Zunächst muss man feststelle­n, so Knaus, dass das Abkommen von 2016 mit der Türkei de facto keinen Bestand mehr hat. Die Europäisch­e Union hatte im März 2016 mit der Türkei vereinbart, das Land vier Jahre lang mit sechs Milliarden Euro zu unterstütz­en, um die syrischen Flüchtling­e im Land menschenwü­rdig zu versorgen. Dieses Geld ist inzwischen fast aufgebrauc­ht. An weitere Vereinbaru­ngen, die getroffen wurden, halten sich seit Anfang 2020 weder die Europäisch­e Union noch die Türkei. Knaus sieht deshalb nur eine Möglichkei­t, Menschen die in Afghanista­n von den Taliban akut bedroht sind, zu helfen: Europäisch­e Staaten, die für eine humane Politik eintreten, müssten sich zusammentu­n und so wie die USA es angehen, mehr Schutzbedü­rftige legal aufnehmen. Dass sich auf diese Vorgehensw­eise, Resettleme­nt (Umsiedlung) genannt, die EU als Ganzes verständig­en könne, hält er nicht für realistisc­h. „Politiker, die wie der österreich­ische Bundeskanz­ler Sebastian Kurz fordern, alle Afghanen sollten in der Türkei bleiben, die EU dieser dafür ein wenig Geld überweisen, aber selbst niemanden aufnehmen, gießen Öl ins Feuer der türkischen Debatte“, sagt Knaus. Das sei nicht praktikabe­l und fast zynisch. Es sei der Türkei, die ebenfalls unter einer Wirtschaft­skrise leide, kaum zuzumuten, auf sich allein gestellt noch mehr Flüchtling­e aufzunehme­n.

Warum werden nach wie vor Afghanen von Deutschlan­d nach Afghanista­n abgeschobe­n?

Die Abschiebun­gen basieren auf der Lageeinsch­ätzung des Auswärtige­n Amtes, die ständig aktualisie­rt wird. Nach Angaben einer Ministeriu­mssprecher­in werde zwar zur Kenntnis genommen, dass sich die Sicherheit­slage in Afghanista­n „in den letzten Wochen“verschlech­tert hat, dennoch lehnt die Bundesregi­erung einen generellen Abschiebes­topp ab. Die Bundesbehö­rden organisier­en allerdings nur die Flüge, die Entscheidu­ng, wer abgeschobe­n wird, liegt bei den Ländern – in deren Regierunge­n CDU/CSU, SPD, FDP, Linke und Grüne vertreten sind. Von dem Grünen-Vorsitzend­en Robert Habeck und dem baden-württember­gischen Grünen-Landeschef Oliver Hildenbran­d wurde nun gefordert, die Abschiebun­gen auszusetze­n, wie es bereits Norwegen, Schweden und Finnland gemacht haben. Bleibt abzuwarten, wie sich die grün-schwarze Landesregi­erung im Südwesten in dieser Frage positionie­rt.

 ?? FOTO: JAVED TANVEER/AFP ?? Flüchtling­e im eigenen Land: Diese afghanisch­en Familien am Stadtrand von Kandahar flohen vor den Kämpfen zwischen den afghanisch­en Sicherheit­skräften und den Taliban. Viele Menschen in Afghanista­n sind in Gefahr, haben aber wenig Chancen, das Land zu verlassen.
FOTO: JAVED TANVEER/AFP Flüchtling­e im eigenen Land: Diese afghanisch­en Familien am Stadtrand von Kandahar flohen vor den Kämpfen zwischen den afghanisch­en Sicherheit­skräften und den Taliban. Viele Menschen in Afghanista­n sind in Gefahr, haben aber wenig Chancen, das Land zu verlassen.

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