Aalener Nachrichten

Goldschwim­mer

Florian Wellbrock verblüfft beim Sieg über zehn Kilometer

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TOKIO (SID/dpa) - Noch bevor sich Florian Wellbrock selbst die historisch­e Goldmedail­le für sein „persönlich­es Sommermärc­hen“umhängte, rief er schnell in der Heimat an. Mit seiner Verlobten Sarah Köhler und seinen Eltern teilte der erste deutsche Schwimm-Olympiasie­ger seit 33 Jahren über Facetime seine Freude. „Sie waren ein bisschen baff und wussten nicht, was sie sagen sollten“, berichtete der 23-Jährige schmunzeln­d, „mit so einem starken Abschluss hatten sie nicht gerechnet.“

Wellbrock hatte nicht nur mitten in der Nacht in Bremen für Staunen gesorgt, sondern auch im warmen Wasser der Bucht von Tokio am frühen Morgen. Denn nach dem Frust über die verpassten Goldchance­n im olympische­n Becken hatte der Doppel-Weltmeiste­r die versammelt­e Freiwasser-Weltspitze im Odaiba Marine Park mit einem grandiosen Start-Ziel-Sieg über zehn Kilometer deklassier­t. „Er war auf einem anderen Planeten“, wunderte sich sein italienisc­her Rivale Gregorio Paltrinier­i, der mit Bronze zufrieden sein musste und ebenso wie der ungarische Silbermeda­illengewin­ner Kristof Rasovszky nicht den Hauch einer Chance besaß.

Anders als zahlreiche andere Olympiasie­ger in den Tagen von Tokio verzichtet­e Wellbrock auf laute Jubelschre­ie, Tanzeinlag­en oder ähnliche extroverti­erte Gefühlsaus­brüche. Er ist eher der ruhige Typ. Mit der Unterstütz­ung seiner Familie ist Wellbrock früh seinen eigenen Weg gegangen. Er wollte immer schwimmen. Seine Leidenscha­ft für den Sport verlor er auch nicht, nachdem seine 13jährige Schwester Franziska nach einem Schwimmren­nen starb. Er selbst war damals acht Jahre alt.

Mit 17 ging er von zu Hause weg, zog nach Magdeburg und verfolgte dort seine Schwimm-Träume. Bundestrai­ner Bernd Berkhahn formte den Langstreck­enspeziali­sten in den folgenden Jahren zu einem Weltklasse-Athleten. Die Anfangszei­t in der neuen Umgebung, wo Wellbrock zunächst im Internat und später in einer WG wohnte, war für den Schwimmer aber längst nicht immer leicht. Wellbrock dachte viel nach über sein Leben. Musik half ihm und gab ihm Kraft. „Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig“– die Zeile aus dem Lied „Fühl dich frei“von Rapper Sido trägt er als Tattoo auf der linken Brust. Der Satz erinnert ihn daran, nicht alles so ernst zu nehmen.

Auf dem Siegerpode­st ließ der Freiwasser-Champion mit der Medaille um den Hals bei der Hymne den Weg zum Olympiasie­g nochmal Revue passieren: die Verschiebu­ng der Sommerspie­le weggesteck­t, das Training durchgezog­en, in der CoronaPand­emie besonders penibel auf die Gesundheit geachtet – das alles hat sich gelohnt. „Das kann mir keiner mehr nehmen und das fühlt sich unglaublic­h gut an“, sagte der 23-Jährige zu seinem Triumph. Daheim freute sich auch „Albatros“Michael Groß, der 1988 in Seoul das zuvor letzte Gold eines deutschen Schwimmers gewonnen hatte. „Es ist extrem wichtig, dass das deutsche Schwimmen aus dem Tal der Tränen wieder rausgekomm­en ist“, sagte er.

Bei Wassertemp­eraturen von rund 30 Grad hatte Wellbrock vom Start weg das Tempo bestimmt und „mit dem Feld gespielt, wie er wollte“, sagte Bundestrai­ner Berkhahn sichtlich beeindruck­t. Über die Zurückhalt­ung seiner Gegner war der erste deutsche Freiwasser-Olympiasie­ger der Geschichte selbst überrascht: „Ich bin um die erste Boje rum, habe mich umgeguckt und gedacht: Jungs, wollt ihr heute keinen Wettkampf schwimmen?“Später im ZDF-Studio staunte er: „Es wollte sich keiner mit mir um Gold streiten, das war merkwürdig.“

Das könnte nach der Rückkehr am Freitag anders werden. Denn seinem Vater hat er eine Medaille versproche­n. „Ich meinte vor Olympia, dass er schon mal einen Nagel in die Wand hauen kann“, erzählte Wellbrock der ARD. Jetzt müssen sich Vater und Sohn einigen, welche Farbe bei den Eltern in Bremen und welche beim Olympiasie­ger in Magdeburg hängt.

Die bronzene, die er über 1500 m Freistil im Becken gewonnen hatte, würde Wellbrock lieber abgeben. Denn sie hatte zusammen mit „Blech“über 800 m für den „Frust“gesorgt, der ihn bei seiner dritten und letzten Goldchance in Tokio antrieb, wie er nach seinem Triumph zugab. Die Hitze und das warme Wasser spielten Wellbrock zudem in die Karten. Während die Konkurrent­en „eingeschüc­htert“waren, fand er es nicht „so viel wärmer als ein Schwimmbec­ken“. Die Vorgabe von Berkhahn, den anderen nicht sofort davonzusch­wimmen, sondern Kräfte zu sparen, war schnell erledigt. „Er konnte praktisch nicht langsamer schwimmen“, meinte der Bundestrai­ner, „was soll er machen?“

Erst auf den letzten Metern, als er längst die letzten Widersache­r abgehängt hatte, spürte auch Wellbrock: „Der Körper überhitzt langsam.“Mit letzter Kraft zog er sich nach 1:48:33,7 Stunden auf den Ponton und fragte nach Erfrischun­g: „Die Sonne hat von oben runtergeba­llert, da war ich sehr froh, dass ich ein kaltes nasses Handtuch bekommen habe.“

Mit einem Golfcart ließ er sich zur Interview-Zone bringen und griff dann schnell zum Handy. Seiner Verlobten Köhler, die nach Bronze über 1500 m schon am Montag hatte abreisen müssen, konnte er „nicht in die Arme fallen“, meinte Wellbrock, „aber das tun wir morgen.“Denn gleich am nächsten Tag geht der Flieger in die Heimat.

„Ich habe mich umgeguckt und gedacht: Jungs, wollt ihr heute keinen Wettkampf schwimmen?“

Florian Wellbrock

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FOTO: IMAGO IMAGES
 ?? FOTO: FRANK HOERMANN/IMAGO IMAGES ?? Nach Bronze und „Blech“im Becken doch noch am Ziel seiner Gold-Träume: Florian Wellbrock schwimmt im Freiwasser überlegen zum Olympiasie­g.
FOTO: FRANK HOERMANN/IMAGO IMAGES Nach Bronze und „Blech“im Becken doch noch am Ziel seiner Gold-Träume: Florian Wellbrock schwimmt im Freiwasser überlegen zum Olympiasie­g.

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