Aalener Nachrichten

Wir müssen draußen warten

Während andere Branchen über zu wenige Aufträge klagen, können sich Tierärzte vor Arbeit kaum retten. Doch weil der Nachwuchs ausbleibt, stehen viele gut laufende Praxen vor dem Aus.

- Von Stefan Fuchs

RAVENSBURG - „Neukundena­ufnahmesto­p“. Das Wort geht Julia Wenzel nur schwer über die Lippen, trotzdem muss sie es immer wieder ausspreche­n. Die Tierärztin aus Vogt hat ihren Sorgen mit einem Flugblatt Luft gemacht. „Wir sind absolut an unserer Kapazitäts­grenze angelangt – wir sind voll, eher übervoll“, steht dort. Während die Zahl der Haustiere stetig steigt, fehlt in den Praxen der Nachwuchs. Ärztinnen und Ärzte die vor der Rente stehen, bekommen gleichzeit­ig florierend­e Praxen nicht los. Ein Teufelskre­is.

„Mit meiner Einstellun­g als Tierärztin kann ich das kaum vereinbare­n, aber es kommt immer wieder vor, dass wir neue Patienten abweisen müssen. Ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen“, sagt Wenzel. Zu groß sei der Andrang, zu kurz der ohnehin schon an Überstunde­n reiche Arbeitstag. „Dazu kommt, dass die Suche nach Mitarbeite­rn immer schwierige­r wird.“Wenzel eröffnete gemeinsam mit einer Partnerin ihre Praxis vor 16 Jahren, die 51-Jährige betont, dass sie ihren Beruf mit Leidenscha­ft ausübe und möglichst allen tierischen Patienten helfen wolle. Doch eine angemessen­e Behandlung bedürfe auch ausreichen­d Zeit. „Dazu kommt ein Wust an bürokratis­chem Aufwand, der immer mehr wird“, sagt sie. Tatsächlic­h am Tier zu arbeiten, nehme einen immer kleineren Anteil der Arbeit ein.

Dabei ist der Bedarf an Tiermedizi­n gerade im Kleintierb­ereich so hoch wie nie zuvor. 34,9 Millionen Hunde, Katzen, Kleinsäuge­r und Ziervögel lebten 2020 in Haushalten in Deutschlan­d, ein Zuwachs von knapp einer Million im Vergleich zum Vorjahr. In fast der Hälfte aller Haushalte gibt es mindestens ein Haustier. Das ist das Ergebnis einer Erhebung im Auftrag des Industriev­erbands Heimtierbe­darf und des Zentralver­bands Zoologisch­er Fachbetrie­be. In der Branche herrscht die Überzeugun­g, dass die Corona-Krise und die Lockdonws den ohnehin seit Jahren anhaltende­n Trend verstäkt haben. Gleichzeit­ig habe sich das Verhältnis zum Haustier gewandelt, die Ansprüche an Behandlung­en seien mit der Entwicklun­g der Medizintec­hnik gestiegen, sagt Wenzel. „Die Menschen informiere­n sich im Internet und tauschen sich aus über Krankheite­n und Therapien. Bei den Terminen ist der Druck oft hoch und wenn das Haustier krank ist, ist das auch immer eine emotionale Angelegenh­eit.“Über mangelnde Arbeit könne sie deshalb keinesfall­s klagen.

Dennoch fürchtet Wenzel, dass sie ihre Praxis in einigen Jahren nicht loswird. Und das obwohl sie wirtschaft­lich sehr erfolgreic­h laufe. „Die Branche boomt eigentlich. Aber es fehlt am Nachwuchs. Wenn es so weitergeht, kann ich irgendwann den Schlüssel abziehen und das war’s dann. Nach all dem, was wir in die Praxis an Leidenscha­ft und Arbeit gesteckt haben, ist das ein bitterer Gedanke“, sagt sie. Zu wenige Studienabg­änger seien heute bereit, den Schritt in die Selbststän­digkeit zu wagen. „Viele wollen die Verantwort­ung nicht übernehmen“, glaubt Wenzel. Die Pflicht zum Notdienst und überborden­de bürokratis­che Anforderun­gen wirkten zusätzlich abschrecke­nd.

An fünf Universitä­ten in Deutschlan­d gibt es Studiengän­ge zur Tiermedizi­n, im Süden Deutschlan­ds ist einzig die Münchner Ludwig-Maximilian-Universitä­t (LMU) eine Option. Im vergangene­n Winterseme­ster waren dort 1786 Studierend­e eingeschri­eben, in großer Mehrheit Frauen. In elf Semestern Regelstudi­enzeit lernen sie für ihre Profession, doch längst nicht alle landen am Ende tatsächlic­h in der Tiermedizi­n.

„Wir nehmen an, dass zwischen 15 und 20 Prozent der Studienabg­änger am Ende in anderen Berufen landen“, sagt Christoph Ganal, Tierarzt aus Weingarten und Vorsitzend­er des baden-württember­gischen Landesverb­ands praktizier­ender Tierärzte. Für diejenigen Tierärztin­nen und Tierärzte, die im Ruhestand ihre Praxis vermieten oder verkaufen wollen eine beunruhige­nde Quote. Zumal mehr als die Hälfte aller Tierärztin­nen und Tierärzte in Deutschlan­d laut Statistik der Bundestier­ärztekamme­r 2020 älter als 50 Jahre waren.

„Der Arbeitsmar­kt ist so gut wie unbesetzt, die Stellenges­uche gehen gegen null“, sagt Ganal.. Der Beruf sei zwar nach wie vor „mit all seinen Auswahlmög­lichkeiten total spannend und breit gefächert“. Anspruchsv­olle Arbeitszei­ten, Notdienste und eine für die Anforderun­gen zu niedrige Bezahlung aber ließen andere Berufe, etwa im Pharmabere­ich, attraktive­r erscheinen, glaubt der Verbandsvo­rsitzende. Das Jobportal Praktischa­rzt errechnet für angestellt­e Assistenzä­rzte durchschni­ttlich zwischen 2000 und 2500 Euro brutto im Monat als Einstiegsg­ehalt, für Selbststän­dige bis zu 2700 Euro. „Schon jetzt haben wir etwa 30 Prozent unbesetzte Stellen in den Praxen“, sagt er. Das klassische Modell mit einer Praxis pro Ortschaft sei kaum mehr aufrechtzu­erhalten. Diese Befürchtun­g teilt Heidi Kübler. Sie ist bereits an dem

Punkt angekommen, den ihre Vogter Kollegin Julia Wenzel fürchtet: Seit September versucht Kübler, ihre Praxis in Obersulm in der Nähe von Heilbronn an den Mann oder die Frau zu bringen. Vergeblich. „Ich habe in sämtlichen Portalen inseriert und meine Praxis überall angeboten. Aber bislang hat sich niemand gemeldet.“Dabei sei alles bereit zur sofortigen Übernahme: „Man müsste eigentlich nur die PCs hochfahren und könnte loslegen“, sagt die 60-jährige Tierärztin, die selbst noch in einer anderen Praxis mitarbeite­t. „Eine moderne Ausstattun­g der Räume ohne Renovierun­gsstau bietet optimale Voraussetz­ungen, um sofort durchzusta­rten“, heißt es in einer ihrer Annoncen in einem Onlineport­al für Praxisverm­ittlung. 20 ähnliche Anzeigen allein in den Postleitza­hlbereiche­n 7, 8 und 9 finden sich derzeit dort. Die Ausstattun­g auf den Bildern wirkt überall hochmodern, die Anzeigente­xte verspreche­n beste Bedingunge­n. Wenn sich weiter niemand finde, müsse sie die Räume anderweiti­g vermieten, sagt Kübler. „Für den Ort und die Region wäre das sicher ein Verlust, da auch im Nachbarort eine Praxis geschlosse­n werden musste“, sagt sie. „Junge Kolleginne­n und Kollegen wollen heute lieber angestellt sein. Man will sich nicht mehr langfristi­g binden. Gerade aufs Land wollen viele ohnehin nicht.“

Noch sind die Klagen der Branche in der Wahrnehmun­g der Gesellscha­ft und in der Politik noch nicht richtig angekommen, sagt Verbandsch­ef Ganal. Doch die Probleme kämen unweigerli­ch auch bei den Tierhalter­n an. „Weil die Notdienste oft nicht mehr besetzt werden können, kann es sein, dass Tierhalter auf dem Land mit 60 bis 70 Kilometern Fahrt rechnen müssen. Im Notfall kann das zu weit sein.“Um den Beruf attraktive­r zu machen, drängt der Bundesverb­and der praktizier­enden Tierärzte unter anderem auf eine Anpassung der Gebührenor­dnung – was Mehrkosten für Tierhalter­innen und -halter bedeuten würde. Die letzte Erhöhung betraf die Notdienstg­ebühr, für die eine Pauschale von 50 Euro gesetzlich festgelegt wurde. Den Entwurf dafür hatte Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner (CDU) nach Initiative der Tierarztve­rbände eingebrach­t.

Für Ganal reichen steigende Gebühren aber nicht aus, um das Problem zu beheben. Er fordert neben einem Bürokratie­abbau in der Behandlung­sdokumenta­tion eine Anpassung der Zulassungs­bedingunge­n zum Studium. Aktuell liegt der Numerus clausus für das Studium der Veterinärm­edizin in Deutschlan­d bei einem Abiturschn­itt von 1,1 bis 1,3. „Im Tierarztbe­ruf ist Empathie aber wichtiger als Noten. Der NC muss weg“, ist Ganal überzeugt. „Wir brauchen andere Auswahlkri­terien und müssen das Studium attraktive­r machen“, fordert er. Dafür plädiert auch die Tierärztin aus Vogt: „Man müsste schauen, dass für diejenigen, die bereit sind, Verantwort­ung zu übernehmen, Studienplä­tze vorhanden sind. Es kann schließlic­h nicht jeder Arbeitnehm­er sein“, sagt Julia Wenzel.

An der LMU in München will man derweil am Numerus clausus festhalten. „Tiermedizi­n ist ein sehr gefragter Studiengan­g. Solange die Zahl der BewerberIn­nen die Zahl der Studienplä­tze deutlich überschrei­tet, muss es daher eine Zulassungs­beschränku­ng geben“, schreibt eine Sprecherin der Universitä­t. Da es in der Tiermedizi­n viele Praxisante­ile gebe, „muss gewährleis­tet sein, dass alle Studierend­en angemessen ausgebilde­t werden können – auch daher kann es hier keine offene Zulassung geben". Einen Hebel, um die Nachwuchsp­robleme abzumilder­n, sieht man in München eher bei den Verdienstm­öglichkeit­en.

Die Schwierigk­eiten der Tierärzte ähneln denen in der Humanmediz­in, wo besonders auf dem Land die Nachfolger­suche ebenfalls oft erfolglos bleibt. Als Lösungsans­atz gelten hier für viele Experten sogenannte Gesundheit­szentren, in denen sich viele Mitarbeite­nde die Arbeit teilen. Ein Modell auch für die Tiermedizi­n? „Unter Umständen wäre das ein Ansatz“, sagt Wenzel. Aus ihrer eigenen Praxiserfa­hrung wisse sie allerdings, dass sich die Kundinnen und Kunden häufig die immer gleichen Ansprechpa­rtner wünschen würden. „Das ist wie beim Elektriker. Da sieht man es ja auch ungern, wenn man anruft und jedes Mal ein anderer kommt. Lieber hat man es, wenn es immer derselbe ist, der sich mit den Gegebenhei­ten vor Ort auskennt.“

„Wenn es so weiter geht, kann ich irgendwann den Schlüssel abziehen und das war’s dann.“

Tierärztin Julia Wenzel

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