Wir müssen draußen warten
Während andere Branchen über zu wenige Aufträge klagen, können sich Tierärzte vor Arbeit kaum retten. Doch weil der Nachwuchs ausbleibt, stehen viele gut laufende Praxen vor dem Aus.
RAVENSBURG - „Neukundenaufnahmestop“. Das Wort geht Julia Wenzel nur schwer über die Lippen, trotzdem muss sie es immer wieder aussprechen. Die Tierärztin aus Vogt hat ihren Sorgen mit einem Flugblatt Luft gemacht. „Wir sind absolut an unserer Kapazitätsgrenze angelangt – wir sind voll, eher übervoll“, steht dort. Während die Zahl der Haustiere stetig steigt, fehlt in den Praxen der Nachwuchs. Ärztinnen und Ärzte die vor der Rente stehen, bekommen gleichzeitig florierende Praxen nicht los. Ein Teufelskreis.
„Mit meiner Einstellung als Tierärztin kann ich das kaum vereinbaren, aber es kommt immer wieder vor, dass wir neue Patienten abweisen müssen. Ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen“, sagt Wenzel. Zu groß sei der Andrang, zu kurz der ohnehin schon an Überstunden reiche Arbeitstag. „Dazu kommt, dass die Suche nach Mitarbeitern immer schwieriger wird.“Wenzel eröffnete gemeinsam mit einer Partnerin ihre Praxis vor 16 Jahren, die 51-Jährige betont, dass sie ihren Beruf mit Leidenschaft ausübe und möglichst allen tierischen Patienten helfen wolle. Doch eine angemessene Behandlung bedürfe auch ausreichend Zeit. „Dazu kommt ein Wust an bürokratischem Aufwand, der immer mehr wird“, sagt sie. Tatsächlich am Tier zu arbeiten, nehme einen immer kleineren Anteil der Arbeit ein.
Dabei ist der Bedarf an Tiermedizin gerade im Kleintierbereich so hoch wie nie zuvor. 34,9 Millionen Hunde, Katzen, Kleinsäuger und Ziervögel lebten 2020 in Haushalten in Deutschland, ein Zuwachs von knapp einer Million im Vergleich zum Vorjahr. In fast der Hälfte aller Haushalte gibt es mindestens ein Haustier. Das ist das Ergebnis einer Erhebung im Auftrag des Industrieverbands Heimtierbedarf und des Zentralverbands Zoologischer Fachbetriebe. In der Branche herrscht die Überzeugung, dass die Corona-Krise und die Lockdonws den ohnehin seit Jahren anhaltenden Trend verstäkt haben. Gleichzeitig habe sich das Verhältnis zum Haustier gewandelt, die Ansprüche an Behandlungen seien mit der Entwicklung der Medizintechnik gestiegen, sagt Wenzel. „Die Menschen informieren sich im Internet und tauschen sich aus über Krankheiten und Therapien. Bei den Terminen ist der Druck oft hoch und wenn das Haustier krank ist, ist das auch immer eine emotionale Angelegenheit.“Über mangelnde Arbeit könne sie deshalb keinesfalls klagen.
Dennoch fürchtet Wenzel, dass sie ihre Praxis in einigen Jahren nicht loswird. Und das obwohl sie wirtschaftlich sehr erfolgreich laufe. „Die Branche boomt eigentlich. Aber es fehlt am Nachwuchs. Wenn es so weitergeht, kann ich irgendwann den Schlüssel abziehen und das war’s dann. Nach all dem, was wir in die Praxis an Leidenschaft und Arbeit gesteckt haben, ist das ein bitterer Gedanke“, sagt sie. Zu wenige Studienabgänger seien heute bereit, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. „Viele wollen die Verantwortung nicht übernehmen“, glaubt Wenzel. Die Pflicht zum Notdienst und überbordende bürokratische Anforderungen wirkten zusätzlich abschreckend.
An fünf Universitäten in Deutschland gibt es Studiengänge zur Tiermedizin, im Süden Deutschlands ist einzig die Münchner Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) eine Option. Im vergangenen Wintersemester waren dort 1786 Studierende eingeschrieben, in großer Mehrheit Frauen. In elf Semestern Regelstudienzeit lernen sie für ihre Profession, doch längst nicht alle landen am Ende tatsächlich in der Tiermedizin.
„Wir nehmen an, dass zwischen 15 und 20 Prozent der Studienabgänger am Ende in anderen Berufen landen“, sagt Christoph Ganal, Tierarzt aus Weingarten und Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbands praktizierender Tierärzte. Für diejenigen Tierärztinnen und Tierärzte, die im Ruhestand ihre Praxis vermieten oder verkaufen wollen eine beunruhigende Quote. Zumal mehr als die Hälfte aller Tierärztinnen und Tierärzte in Deutschland laut Statistik der Bundestierärztekammer 2020 älter als 50 Jahre waren.
„Der Arbeitsmarkt ist so gut wie unbesetzt, die Stellengesuche gehen gegen null“, sagt Ganal.. Der Beruf sei zwar nach wie vor „mit all seinen Auswahlmöglichkeiten total spannend und breit gefächert“. Anspruchsvolle Arbeitszeiten, Notdienste und eine für die Anforderungen zu niedrige Bezahlung aber ließen andere Berufe, etwa im Pharmabereich, attraktiver erscheinen, glaubt der Verbandsvorsitzende. Das Jobportal Praktischarzt errechnet für angestellte Assistenzärzte durchschnittlich zwischen 2000 und 2500 Euro brutto im Monat als Einstiegsgehalt, für Selbstständige bis zu 2700 Euro. „Schon jetzt haben wir etwa 30 Prozent unbesetzte Stellen in den Praxen“, sagt er. Das klassische Modell mit einer Praxis pro Ortschaft sei kaum mehr aufrechtzuerhalten. Diese Befürchtung teilt Heidi Kübler. Sie ist bereits an dem
Punkt angekommen, den ihre Vogter Kollegin Julia Wenzel fürchtet: Seit September versucht Kübler, ihre Praxis in Obersulm in der Nähe von Heilbronn an den Mann oder die Frau zu bringen. Vergeblich. „Ich habe in sämtlichen Portalen inseriert und meine Praxis überall angeboten. Aber bislang hat sich niemand gemeldet.“Dabei sei alles bereit zur sofortigen Übernahme: „Man müsste eigentlich nur die PCs hochfahren und könnte loslegen“, sagt die 60-jährige Tierärztin, die selbst noch in einer anderen Praxis mitarbeitet. „Eine moderne Ausstattung der Räume ohne Renovierungsstau bietet optimale Voraussetzungen, um sofort durchzustarten“, heißt es in einer ihrer Annoncen in einem Onlineportal für Praxisvermittlung. 20 ähnliche Anzeigen allein in den Postleitzahlbereichen 7, 8 und 9 finden sich derzeit dort. Die Ausstattung auf den Bildern wirkt überall hochmodern, die Anzeigentexte versprechen beste Bedingungen. Wenn sich weiter niemand finde, müsse sie die Räume anderweitig vermieten, sagt Kübler. „Für den Ort und die Region wäre das sicher ein Verlust, da auch im Nachbarort eine Praxis geschlossen werden musste“, sagt sie. „Junge Kolleginnen und Kollegen wollen heute lieber angestellt sein. Man will sich nicht mehr langfristig binden. Gerade aufs Land wollen viele ohnehin nicht.“
Noch sind die Klagen der Branche in der Wahrnehmung der Gesellschaft und in der Politik noch nicht richtig angekommen, sagt Verbandschef Ganal. Doch die Probleme kämen unweigerlich auch bei den Tierhaltern an. „Weil die Notdienste oft nicht mehr besetzt werden können, kann es sein, dass Tierhalter auf dem Land mit 60 bis 70 Kilometern Fahrt rechnen müssen. Im Notfall kann das zu weit sein.“Um den Beruf attraktiver zu machen, drängt der Bundesverband der praktizierenden Tierärzte unter anderem auf eine Anpassung der Gebührenordnung – was Mehrkosten für Tierhalterinnen und -halter bedeuten würde. Die letzte Erhöhung betraf die Notdienstgebühr, für die eine Pauschale von 50 Euro gesetzlich festgelegt wurde. Den Entwurf dafür hatte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) nach Initiative der Tierarztverbände eingebracht.
Für Ganal reichen steigende Gebühren aber nicht aus, um das Problem zu beheben. Er fordert neben einem Bürokratieabbau in der Behandlungsdokumentation eine Anpassung der Zulassungsbedingungen zum Studium. Aktuell liegt der Numerus clausus für das Studium der Veterinärmedizin in Deutschland bei einem Abiturschnitt von 1,1 bis 1,3. „Im Tierarztberuf ist Empathie aber wichtiger als Noten. Der NC muss weg“, ist Ganal überzeugt. „Wir brauchen andere Auswahlkriterien und müssen das Studium attraktiver machen“, fordert er. Dafür plädiert auch die Tierärztin aus Vogt: „Man müsste schauen, dass für diejenigen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, Studienplätze vorhanden sind. Es kann schließlich nicht jeder Arbeitnehmer sein“, sagt Julia Wenzel.
An der LMU in München will man derweil am Numerus clausus festhalten. „Tiermedizin ist ein sehr gefragter Studiengang. Solange die Zahl der BewerberInnen die Zahl der Studienplätze deutlich überschreitet, muss es daher eine Zulassungsbeschränkung geben“, schreibt eine Sprecherin der Universität. Da es in der Tiermedizin viele Praxisanteile gebe, „muss gewährleistet sein, dass alle Studierenden angemessen ausgebildet werden können – auch daher kann es hier keine offene Zulassung geben". Einen Hebel, um die Nachwuchsprobleme abzumildern, sieht man in München eher bei den Verdienstmöglichkeiten.
Die Schwierigkeiten der Tierärzte ähneln denen in der Humanmedizin, wo besonders auf dem Land die Nachfolgersuche ebenfalls oft erfolglos bleibt. Als Lösungsansatz gelten hier für viele Experten sogenannte Gesundheitszentren, in denen sich viele Mitarbeitende die Arbeit teilen. Ein Modell auch für die Tiermedizin? „Unter Umständen wäre das ein Ansatz“, sagt Wenzel. Aus ihrer eigenen Praxiserfahrung wisse sie allerdings, dass sich die Kundinnen und Kunden häufig die immer gleichen Ansprechpartner wünschen würden. „Das ist wie beim Elektriker. Da sieht man es ja auch ungern, wenn man anruft und jedes Mal ein anderer kommt. Lieber hat man es, wenn es immer derselbe ist, der sich mit den Gegebenheiten vor Ort auskennt.“
„Wenn es so weiter geht, kann ich irgendwann den Schlüssel abziehen und das war’s dann.“
Tierärztin Julia Wenzel