Auf Augenhöhe mit dem Rotkehlchen
Baumhotels erfreuen sich größter Beliebtheit – Abstand halten ist hier kein Problem
Wir wohnen mitten in einer Buche im Allgäu. Das Baumhaus bei Betzigau ist rund um den stattlichen Stamm gebaut und in der Krone verankert. Die Kinder stürmen sofort die Treppe. Aber auch bei den Erwachsenen kribbelt’s. Denn so ein Baumhaus erinnert an die eigene Jugend, als man sich hoch droben in den Wipfeln einen Rückzugsort schuf. Es erinnert auch an die Geheimnisse, die man dort vor den Eltern verbergen konnte, sobald man die Strickleiter hochgezogen hatte. Heute muss man nur die Tür schließen und schon stellt sich das Kindheitsgefühl ein.
Es herrscht eine friedliche Ruhe, die eigentlich keine ist, sondern vielmehr eine Ansammlung beruhigender Geräusche, die durchs Fenster sanft hereinschweben: säuselnder Wind, wippende Äste, piepsende Vögel. Ein Baumhaus ist ein magischer Ort ohne lästige Verpflichtungen und Erwartungen. Man vergisst die Sorgen und Corona. Dabei ist die Pandemie ja immer noch das große Thema. Viele Menschen sind verständlicherweise vorsichtig. Das Virus lauert überall. Doch auch jene, die noch nicht geimpft sind, wollen raus aus den eigenen vier Wänden und sich erholen. Deswegen gilt auch im Urlaub weiterhin: Abstand halten und Kontakte vermeiden. Das geht am besten, indem man sich eine Unterkunft bucht, in der man nicht Tür an Tür mit anderen Gästen und möglichst naturnah urlaubt. Beim Deutschen Reiseverband ist man sich sicher, dass die Nachfrage nach Ferienhäusern und Appartements auf dem Land, nach Wohnungen auf dem Bauernhof und eben Baumhäusern weiter steigt. Schon vor der Pandemie habe es einen Trend in diese Richtung gegeben. Die Menschen drängten viel mehr in die Natur als in große Städte. „Man möchte eher für sich sein“, erklärte Kerstin Heinen vom Deutschen Reiseverband kürzlich. Statista, das auch Markt- und Konsumdaten aus dem Tourismus erhebt, veröffentlichte eine Umfrage, wonach 60 Prozent der Deutschen ihren Urlaub im Jahr 2021 in einer abgetrennten Einheit wie einer Ferienwohnung verbringen wollen. Viele äußersten dabei die Absicht, sich eine besondere Unterkunft wie ein Hausboot oder ein Baumhaus gönnen zu wollen. Hauptsache Abstand.
Bei uns beträgt die Entfernung zum Nachbar-Baumhaus rund 20 Meter Luftlinie und zwei schier unüberwindbare Buchen. Die Familie, die heute Nachmittag eingezogen ist, rückt die Liegestühle auf der Terrasse zurecht, um die Allgäuer Sonne zu genießen. Freilich sind die Betzigauer Baumhäuser aber auch ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge in die Berge oder zu Ludwigs Königsschlössern. Die Kinder wollen davon freilich nichts wissen. Sie spielen und toben lieber im Wald, bauen Schilf-Schiffchen, die sie der wilden Fahrt im kleinen Bach aussetzen, und besuchen Hühner, Hasen, Ziegen, Kühe und Pferde im nahen Bauernhof. Und als Hauptattraktion wartet ja noch das Bett am Baumstamm samt Küche, Bad, zwei Schlafzimmern und hochwertiger Ausstattung wie in einem sehr guten Hotelzimmer. Was man nicht alles um einen dicken Buchenstamm herum auf 32 Quadratmetern bauen kann!
Die ersten touristischen Baumhäuser in Deutschland eröffneten 2005. Mittlerweile gibt es sie in fast jedem Bundesland. So listet das Internetportal traumquartiere.de 50 Baumhaushotels in Deutschland mit teils acht, zehn oder zwölf Einheiten. Baumhäuser sind aber keine Erfindung der Neuzeit. Bereits römische Kaiser ließen Bretter zwischen die Wipfel spannen, um sich hoch droben zu erholen und die Natur zu beobachten. Indigene Völker in Asien, Afrika und Südamerika pflegen seit jeher ihr Dasein hoch über dem Erdboden.
Heutzutage ist ein Baumhaus ein Hotelzimmer beziehungsweise ein Apartment, das in die Baumkrone gesetzt oder rund um den Stamm gebaut wurde. In der Regel muss der Gast auf die Infrastruktur eines Hotels verzichten. Spa, Sauna, Restaurant sucht man vergebens. Im Normalfall gibt es aber einen Frühstücksservice.
Bei uns in Betzigau stellt eine gute Fee jeden Morgen um acht Uhr einen Korb mit Brot, Wurst, Käse und Eiern, die die Hühner drüben auf dem Bauernhof frisch gelegt haben, vor die Tür. Wer mittags oder abends eine warme Mahlzeit will, muss sich selbst etwas auf den beiden Herdplatten zubereiten oder in ein Gasthaus im Ort gehen, der allerdings drei Kilometer entfernt ist. Man findet aber auch Luxus-Baumhäuser in Deutschland, die über Dachterrasse samt Whirlpool und viele weitere Annehmlichkeiten verfügen. Damit entfernen sie sich aber immer weiter von einem naturnahen Urlaub, bei dem eigentlich das Erlebnis Wald im Mittelpunkt stehen sollte. Wir jedenfalls haben Freundschaft mit einem Rotkehlchen geschlossen, das jeden Morgen auf einem Ast wartet, bis wir die Tür öffnen. Vielleicht lauert es aber auch nur, weil da ein prall gefüllter Frühstückskorb steht ...
Im „Baumhaushotel Allgäu“gibt es vier klassische Baumhäuser und sechs sogenannte Landeier aus Holz, die in Bäume integriert wurden und die über eine geschindelte Fassade verfügen. Alle bieten Heizung, Warmwasser, Bad und Küche samt Spülmaschine und zwei getrennte Schlafzimmer. Ab 236 Euro/Nacht für 4 Personen. www.baumhaushotel-allgaeu.de