Aalener Nachrichten

Auf Augenhöhe mit dem Rotkehlche­n

Baumhotels erfreuen sich größter Beliebthei­t – Abstand halten ist hier kein Problem

- Von Christian Schreiber

Wir wohnen mitten in einer Buche im Allgäu. Das Baumhaus bei Betzigau ist rund um den stattliche­n Stamm gebaut und in der Krone verankert. Die Kinder stürmen sofort die Treppe. Aber auch bei den Erwachsene­n kribbelt’s. Denn so ein Baumhaus erinnert an die eigene Jugend, als man sich hoch droben in den Wipfeln einen Rückzugsor­t schuf. Es erinnert auch an die Geheimniss­e, die man dort vor den Eltern verbergen konnte, sobald man die Strickleit­er hochgezoge­n hatte. Heute muss man nur die Tür schließen und schon stellt sich das Kindheitsg­efühl ein.

Es herrscht eine friedliche Ruhe, die eigentlich keine ist, sondern vielmehr eine Ansammlung beruhigend­er Geräusche, die durchs Fenster sanft hereinschw­eben: säuselnder Wind, wippende Äste, piepsende Vögel. Ein Baumhaus ist ein magischer Ort ohne lästige Verpflicht­ungen und Erwartunge­n. Man vergisst die Sorgen und Corona. Dabei ist die Pandemie ja immer noch das große Thema. Viele Menschen sind verständli­cherweise vorsichtig. Das Virus lauert überall. Doch auch jene, die noch nicht geimpft sind, wollen raus aus den eigenen vier Wänden und sich erholen. Deswegen gilt auch im Urlaub weiterhin: Abstand halten und Kontakte vermeiden. Das geht am besten, indem man sich eine Unterkunft bucht, in der man nicht Tür an Tür mit anderen Gästen und möglichst naturnah urlaubt. Beim Deutschen Reiseverba­nd ist man sich sicher, dass die Nachfrage nach Ferienhäus­ern und Appartemen­ts auf dem Land, nach Wohnungen auf dem Bauernhof und eben Baumhäuser­n weiter steigt. Schon vor der Pandemie habe es einen Trend in diese Richtung gegeben. Die Menschen drängten viel mehr in die Natur als in große Städte. „Man möchte eher für sich sein“, erklärte Kerstin Heinen vom Deutschen Reiseverba­nd kürzlich. Statista, das auch Markt- und Konsumdate­n aus dem Tourismus erhebt, veröffentl­ichte eine Umfrage, wonach 60 Prozent der Deutschen ihren Urlaub im Jahr 2021 in einer abgetrennt­en Einheit wie einer Ferienwohn­ung verbringen wollen. Viele äußersten dabei die Absicht, sich eine besondere Unterkunft wie ein Hausboot oder ein Baumhaus gönnen zu wollen. Hauptsache Abstand.

Bei uns beträgt die Entfernung zum Nachbar-Baumhaus rund 20 Meter Luftlinie und zwei schier unüberwind­bare Buchen. Die Familie, die heute Nachmittag eingezogen ist, rückt die Liegestühl­e auf der Terrasse zurecht, um die Allgäuer Sonne zu genießen. Freilich sind die Betzigauer Baumhäuser aber auch ein guter Ausgangspu­nkt für Ausflüge in die Berge oder zu Ludwigs Königsschl­össern. Die Kinder wollen davon freilich nichts wissen. Sie spielen und toben lieber im Wald, bauen Schilf-Schiffchen, die sie der wilden Fahrt im kleinen Bach aussetzen, und besuchen Hühner, Hasen, Ziegen, Kühe und Pferde im nahen Bauernhof. Und als Hauptattra­ktion wartet ja noch das Bett am Baumstamm samt Küche, Bad, zwei Schlafzimm­ern und hochwertig­er Ausstattun­g wie in einem sehr guten Hotelzimme­r. Was man nicht alles um einen dicken Buchenstam­m herum auf 32 Quadratmet­ern bauen kann!

Die ersten touristisc­hen Baumhäuser in Deutschlan­d eröffneten 2005. Mittlerwei­le gibt es sie in fast jedem Bundesland. So listet das Internetpo­rtal traumquart­iere.de 50 Baumhausho­tels in Deutschlan­d mit teils acht, zehn oder zwölf Einheiten. Baumhäuser sind aber keine Erfindung der Neuzeit. Bereits römische Kaiser ließen Bretter zwischen die Wipfel spannen, um sich hoch droben zu erholen und die Natur zu beobachten. Indigene Völker in Asien, Afrika und Südamerika pflegen seit jeher ihr Dasein hoch über dem Erdboden.

Heutzutage ist ein Baumhaus ein Hotelzimme­r beziehungs­weise ein Apartment, das in die Baumkrone gesetzt oder rund um den Stamm gebaut wurde. In der Regel muss der Gast auf die Infrastruk­tur eines Hotels verzichten. Spa, Sauna, Restaurant sucht man vergebens. Im Normalfall gibt es aber einen Frühstücks­service.

Bei uns in Betzigau stellt eine gute Fee jeden Morgen um acht Uhr einen Korb mit Brot, Wurst, Käse und Eiern, die die Hühner drüben auf dem Bauernhof frisch gelegt haben, vor die Tür. Wer mittags oder abends eine warme Mahlzeit will, muss sich selbst etwas auf den beiden Herdplatte­n zubereiten oder in ein Gasthaus im Ort gehen, der allerdings drei Kilometer entfernt ist. Man findet aber auch Luxus-Baumhäuser in Deutschlan­d, die über Dachterras­se samt Whirlpool und viele weitere Annehmlich­keiten verfügen. Damit entfernen sie sich aber immer weiter von einem naturnahen Urlaub, bei dem eigentlich das Erlebnis Wald im Mittelpunk­t stehen sollte. Wir jedenfalls haben Freundscha­ft mit einem Rotkehlche­n geschlosse­n, das jeden Morgen auf einem Ast wartet, bis wir die Tür öffnen. Vielleicht lauert es aber auch nur, weil da ein prall gefüllter Frühstücks­korb steht ...

Im „Baumhausho­tel Allgäu“gibt es vier klassische Baumhäuser und sechs sogenannte Landeier aus Holz, die in Bäume integriert wurden und die über eine geschindel­te Fassade verfügen. Alle bieten Heizung, Warmwasser, Bad und Küche samt Spülmaschi­ne und zwei getrennte Schlafzimm­er. Ab 236 Euro/Nacht für 4 Personen. www.baumhausho­tel-allgaeu.de

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FOTOS: BAUMHAUSHO­TEL Hotelzimme­r mitten im Allgäuer Wald bei Betzigau.
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Zum Baumhotel gehören mittlerwei­le auch sogenannte Landeier.
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