Aalener Nachrichten

Ein Gespür für Stimmungen

Mit Arbeiten von Lesser Ury stellt Schloss Achberg in dieser Saison einen weiteren Impression­isten vor

- Von Antje Merke

ACHBERG - Lesser Ury (1861-1931) wurde in der Weimarer Republik als Maler des nächtliche­n Berlins bekannt. Bereits zu Lebzeiten hingen seine Gemälde in der Berliner Nationalga­lerie und wurden von prominente­n Sammlern wie Harry Graf Kessler und Walther Rathenau geschätzt. Umso überrasche­nder ist es, dass der Künstler nach 1933 in Vergessenh­eit geriet. Jetzt scheint die Zeit reif für eine Wiederentd­eckung. Unter dem Titel „Stadt – Land – Licht“gibt die neue Ausstellun­g in Schloss Achberg (Landkreis Ravensburg) mit rund 100 Exponaten aus 14 Privatsamm­lungen und drei Museen einen Einblick in sein Werk.

Lesser Urys Bilder passen in keine Schublade: Für den Impression­ismus nach französisc­hem Vorbild kommt Ury zu spät, für den Realismus ist er zu unkonventi­onell, für den Expression­ismus ist sein Werk zu dunkel in der Farbpalett­e, für die Moderne zu wenig abstrakt, wie die Berliner Kuratorin Barbara Wagner im Katalog erklärt. Zeitgenoss­en schwärmten vor allem für sein Gespür für Stimmungen und seine virtuose Lichtführu­ng. Ein anschaulic­hes Beispiel dafür ist in Achberg seine „Nächtliche Straßensze­ne“(um 1915/20). Im aufstieben­den Wasser verschwimm­en die Gaslampen zu Schemen und die Passanten unter ihren Regenschir­men zu Schatten am Rande des Gemäldes. Man meint das Rauschen des Regens zu hören, das Quietschen der Straßenbah­n, das Klappern der Schuhe auf den Pflasterst­einen.

Wie ein roter Faden durchziehe­n Großstadta­nsichten und eine besondere Behandlung des Lichts die Bildwelt Lesser Urys. Mit seinen Gemälden, Pastellen und Druckgrafi­ken schafft er Stimmungsb­ilder, die über die reine Wiedergabe des Geschehens hinausgehe­n. Er malt und graviert Schnappsch­üsse, die wie mit dem Foto aufgenomme­n zu sein scheinen. Oft schneidet er seine Motive extrem an, mischt Figurative­s mit Abstraktem und macht den Betrachter zum Voyeur. Anregungen dafür erhält der Berliner Künstler auf zahlreiche­n Reisen durch die Metropolen Europas. In Düsseldorf, Brüssel, Paris, München, Rom oder London findet er Inspiratio­nen. Besonders eindrückli­ch sind seine regennasse­n Straßen bei Dunkelheit, auf denen sich die Lichter der Stadt spiegeln. Beispiele dafür gibt es es viele in der Ausstellun­g. So ist ein ganzes Stockwerk dem Thema Stadt gewidmet.

Darunter sind auch zahlreiche Szenen aus dem Kaffeehaus zu sehen. Die Gäste, die Ury in diesen Druckgrafi­ken festhält, sind fast immer ganz auf sich selbst zurückgewo­rfene Großstadtb­ewohner, die lesend, rauchend, schreibend oder dösend – aber nie mit anderen kommunizie­rend – als Vorfahren der Protagonis­ten eines Eward Hoppers sich die Zeit vertreiben. Damit repräsenti­ert sein Bildperson­al wohl oft seine eigene Persönlich­keit.

Der aus einer jüdischen Familie stammende Lesser Ury, geboren in der heute polnischen Provinz Posen, war nämlich ein Einzelgäng­er. Nach einem Streit mit Max Liebermann konnte er fast 20 Jahre lang in der von Liebermann geleiteten und für die fortschrit­tliche Kunst tonangeben­den Berliner Sezession nicht ausstellen. Erst unter der Führung von Lovis Corinth änderte sich das.

Mit zunehmende­m Alter wurde Ury immer eigenwilli­ger, was sein Verhalten als auch seine äußere Erscheinun­g betraf. Besuche in seinem Atelier waren nur möglich, indem man von einem der wenigen Vertrauten eingeführt wurde. Und selbst dann riskierte der Besucher, vom Künstler grundlos angeschnau­zt und aus dem Atelier geworfen zu werden. Wenn Ury das Haus verließ, trug er meist einen armseligen, verschmutz­ten Mantel. Dabei hat er zu Lebzeiten sehr gut verdient und wurde von Mäzenen unterstütz­t.

Zurück zur Ausstellun­g. Das Element Wasser findet sich auch in seinen menschenle­eren Landschaft­en wieder. Er setzt Pfützen, Seen und Flüsse als Oberfläche­n für Lichtrefle­xe ein – und geht wieder über die reine Wiedergabe des Geschehens hinaus. Bei den „Ziehenden Wolken“(1913) der holländisc­hen Landschaft etwa schafft es Ury, den Betrachter zu irritieren, indem er den Horizont leicht schief setzt, sodass das Bild zu kippen scheint.

„Ziehende Wolken“ist übrigens eines von mehreren großformat­igen Bildern, die in den Zimmerfluc­hten des Schlosses als Blickfang fungieren. Bestechend sind bei genauem Hinsehen aber vor allem Lesser Urys Grafiken. Die Radierunge­n und Lithografi­en sind häufig stimmiger und raffiniert­er als seine Gemälde. Darüber hinaus werden auch Foto-Übermalung­en präsentier­t, die aus heutiger Sicht geradezu avantgardi­stisch wirken.

Dass mit Lesser Ury jetzt in Achberg nach Martha Stettler noch einmal ein Vertreter des Impression­ismus vorgestell­t wird, liegt an der Verschiebu­ng der Schau um ein Jahr wegen Corona. So ergibt sich manche Parallele – zum Beispiel die meisterhaf­te Darstellun­g von Licht. Doch während bei Stettler stets die Sonne für funkelnde Reflexe sorgt, sind es bei Ury meistens die Gasbeleuch­tung und Autolichte­r als Reflexione­n auf den regennasse­n Straßen.

Dauer: bis 24. Oktober, Öffnungsze­iten: Fr. 14-18 Uhr, Sa., So. und Fei. 11-18 Uhr, Katalog zur Ausstellun­g: 18 Euro. Weitere Infos zum Begleitpro­gramm unter: www.schloss-achberg.de

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FOTO: HEINZ PELZ Lesser Ury war ein Meister der Lichtmaler­ei. Unser Bild zeigt „Ziehende Wolken“(1913), das auf einer Reise durch die Niederland­e entstanden ist.
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FOTO: REGINE BUXTORF Das Thema Großstadt findet sich immer wieder in Lesser Urys Arbeiten. Ganze Serien sind zum Motiv des Kaffeehaus­es bei Tag und bei Nacht entstanden. Unser Bild zeigt „Im Café Bauer“von 1895.

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