Mit dem Rückenwind der Geschichte
Pokalduell mit dem 1. FC Nürnberg weckt in SSV Ulm beste Erinnerungen
ULM - Klaus Augenthaler fluchte gewaltig, als Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer am 26. August 2001 die Erstrunden-Partie im DFB-Pokal zwischen dem SSV Ulm und dem 1. FC Nürnberg abpfiff. Der Trainer der Clubberer wollte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte – nichts anderes als eine Sensation. Erstmals in der Geschichte des DFB-Pokals hatte ein Fünft- einen Bundesligisten ausgeschaltet. Nach 90 Minuten prangte ein 2:1 für den SSV auf der Anzeigetafel, 5000 Zuschauer im Donaustadion lagen sich in den Armen.
„Es tut einfach weh. Du kommst als haushoher Favorit an und verlierst. Danach fragst du dich: Wie geht es weiter?“, erinnerte sich Augenthaler noch Jahre später in einem Interview. „Da verstehst du die Welt nicht mehr.“Bis er sie wieder verstanden habe, habe der Weltmeister von 1990 „zwei, drei Tage mindestens“gebraucht.
In Ulm hingegen ist jener 26. August 2001 bis heute omnipräsent. War es doch nicht nur eine der größten Überraschungen der Pokalgeschichte, sondern vor allem ein extrem wichtiger Erfolg für den zu dieser Zeit schwer gebeutelten Verein. 15 Monate vor dem Sensationssieg gegen Nürnberg spielte der SSV noch in der Bundesliga, nach zwei Abstiegen aus der 1. und 2. Liga waren aber die Kassen leer, der Verein musste Insolvenz anmelden – und nahezu von ganz unten neu anfangen.
Verbandsliga statt Bundesliga, SV Oberzell und FV Biberach statt FC Bayern und Borussia Dortmund. Für die geschundene Ulmer Fußballseele war der Triumph über Nürnberg wahrer Balsam. „Es ist seit langer Zeit mal wieder etwas Positives im Verein“, sagte Holger Betz direkt nach Schlusspfiff. Der Torhüter war den Weg aus der Bundes- in die Verbandsliga mitgegangen. Ebenso wie Siegtorschütze Dragan Trkulja. „Die Nürnberger haben uns damals völlig unterschätzt. Wir waren giftig, motiviert und eine junge Truppe“, erinnerte sich der Angreifer kürzlich in der „Augsburger Allgemeinen“.
Dass die Nürnberger beim erneuten Aufeinandertreffen am Samstag (18.30 Uhr/Sky) noch einmal so überheblich im Donaustadion auftreten werden wie vor 20 Jahren, ist nicht zu erwarten – auch weil der Klassenunterschied mittlerweile deutlich geringer ist. Der Club spielt mittlerweile in Liga 2 und konnte in der Vorsaison erst in der Nachspielzeit des Relegationsspiels gegen Ingolstadt den Abrutsch in die 3. Liga verhindern. Die Ulmer hingegen streben eben diese dritthöchste Klasse mit großer Vehemenz an. „Der Club hat einen Dreijahresplan, bis 2023 soll der Aufstieg in die 3. Liga gelingen“, sagte Trainer Thomas Wörle kürzlich im Interview mit fussball.de.
Genau für diese Aufgabe haben die Ulmer Verantwortlichen den Ex-Profi im Sommer geholt. Nach drei Jahren Holger Bachthaler verspricht sich die Vereinsspitze vom 39-Jährigen neue Impulse für den angestrebten Weg nach oben. Dass der neue SSV-Coach bisher nur im Frauenfußball als Trainer Erfahrungen sammelte, schreckte in Ulm niemanden ab – im Gegenteil: Mit seiner neunjähriger Arbeit bei den Frauen des FC Bayern München (2010 bis 2019) punktete Wörle sogar bei den Vereinsbossen: „Er formte aus ihnen eine Spitzenmannschaft der Frauen-Bundesliga“, sagte SSV-Geschäftsführer Markus Thiele bei der Vorstellung des neuen Übungsleiters. Auch in Ulm soll Wörle nun etwas aufbauen und entwickeln.
Dabei kann er auf dem erfolgreichen Wirken von Bachthaler aufbauen. Der 46-Jährige hatte eine gute Zeit, etablierte die Spatzen in der Spitzengruppe der Regionalliga und überraschte im DFB-Pokal – unter anderem mit dem Sieg über Titelverteidiger Eintracht Frankfurt 2018. Eine Bürde ist das für Wörle nicht: Die Trennung von seinem Vorgänger sei ohne Nebengeräusche verlaufen und auch kein potenzieller Stolperstein für ihn. „Ich bin super aufgenommen worden und habe eine Mannschaft mit sehr viel Charakter vorgefunden, die unheimlich positiv ist“, sagte Wörle im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Das macht mir bis jetzt sehr viel Spaß.“
Die Umstellung vom Frauen- auf den Herrenfußball ist dem 39-Jährigen bislang problemlos gelungen. „Klar, das sind Männer und Männer in der Gruppe sind nochmal irgendwie anders. Aber das kenne ich aus meiner aktiven Zeit, die Anpassung ging eigentlich sehr schnell und ich habe mich gar nicht groß verstellen müssen“, berichtete Wörle. Vereinfacht worden sei ihm der Einstieg durch die Unterstützung im gesamten Club. „Alle im Verein und im Umfeld packen mit an. Es ist toll zu sehen, wie jeder seinen Teil einbringen will.“
Atmosphäre und Engagement passen also beim SSV Ulm, doch Wörle gibt sich damit alleine nicht zufrieden. „Ich bin jemand, der einen hohen Anspruch an sich selber hat und das auch auf andere überträgt“, betonte er. Der Fokus liegt dabei klar auf der Regionalliga, im Pokalduell mit Nürnberg sieht der Trainer seine Mannschaft als klaren Außenseiter. Doch das waren die Ulmer vor 20 Jahren auch. Das Ergebnis ist bekannt – und ärgert Klaus Augenthaler bis heute.