Völlig unverständlich
Beim Boxen ist die langweiligste Phase des Kampfes, wenn die Athleten ineinander verkeilt im Ring hin und her torkeln. Erst wenn sich ein Boxer aus dem Griff befreit, wacht das Publikum wieder auf. Dieser Moment ist für die Deutsche Bahn und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) jetzt gekommen. Monatelang hatten sich die Parteien gegenseitig die Schuld für den Tarifkonflikt zugeschoben. Nun holen die Lokführer zum Schlag aus. Doch der Punch der Gewerkschaft kommt zur Unzeit. Der Streik ist völlig unverständlich.
Die Lokführer und Zugbegleiter haben schon häufig ihr Recht zum Arbeitskampf wahrgenommen. Oft haben sie dafür sogar die Unterstützung der Bahnfahrer gehabt. Der Kampf David gegen Goliath hatte durchaus Charme. Doch seit dem letzten Streik vor sechs Jahren ist einiges passiert. Der Konzern hat sich gewandelt, der Kampf ist ein anderer – und Corona gibt es auch noch.
Klar läuft nicht alles rosig. Lange hat die Managementebene geschlafen. Erst seit drei Jahren setzt der Konzern auf Digitalisierung. Auch ein zuverlässiger Takt soll kommen. Das Nachtzuggeschäft wird wieder aufgebaut. Es wird investiert. Und das, obwohl der Konzern die CoronaVerluste abfedern muss. Und das, obwohl der Wiederaufbau in den Hochwassergebieten teuer wird.
All das weiß GDL-Chef Claus Weselsky. Gab es zu Beginn noch einen monströsen Forderungskatalog, trennen die Parteien nun nur noch wenige Monate Tariflaufzeit. Doch es geht um mehr. Weselsky befindet sich im Machtkampf mit der Konkurrenz-Gewerkschaft EVG. Beide wollen für das Schienenpersonal verhandeln. Doch das Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass dies nur die größere Gewerkschaft macht – das ist oft die EVG. Mit den Streiks will Weselsky die Muskeln spielen lassen. Doch steht er auf verlorenem Posten. Die Bahn will nicht nachgeben – und zur Not klagen. Am Ende wird Weselsky mit den Streiks nur bewirken, dass sich mehr Menschen in die Bahnen quetschen müssen und Züge damit zu Pandemie-Treibern werden. Oder er wird Kunden vergraulen.