Aalener Nachrichten

Das Alpenloch will nicht so richtig wachsen

Der Brennerbas­istunnel könnte die Tiroler Verkehrsnö­te im Nord-Süd-Transit beseitigen – Doch seine Fertigstel­lung verzögert sich ein weiteres Mal

- Von Uwe Jauß

- Mittäglich­e Mattigkeit vor der Café-Bar Arcade in Steinach am Brenner, Tirol. Eine Handvoll Rentner schlürft an Tischen auf dem Trottoir vor dem Lokal wahlweise Bier oder verlängert­en Kaffee – und dies ziemlich gelangweil­t. Dann bringt aber ein Stichwort Leben in die kleine Gesellscha­ft. Es lautet Brennerbas­istunnel. „Ach komm, geh weiter, das wird doch nie etwas“, schimpft Alois Salchner über das gigantisch­e Bahnprojek­t, das transeurop­äische Güter auf die Schiene bringen und das meist zur Urlaubszei­t zusätzlich verschärft­e Tiroler Verkehrsch­aos entwirren soll.

Neben Salchner nickt sein Kumpel Georg und meint: „Ich habe schon immer prophezeit, dass da nie ein Gleis verlegt wird.“Ein dritter, sich Fips nennender Zecher sagt genervt zwischen zwei Schluck Bier, es würden sinnlos Milliarden von Euro in den Bergen verpulvert. Das ganze Geschäft sei korrupt.

So geht es fast eine halbe Stunde mit dem Genörgel weiter, während sich in Sichtweite am Talhang die Brenneraut­obahn zum wichtigste­n Alpenpass hochwindet – vollgestop­ft mit Lkw in beide Richtungen, dazwischen Urlauber, die irgendwie versuchen, mit ihren Wagen vorwärtszu­kommen. Zum überborden­den Verkehr passt noch, dass im Hintergrun­d das Gerumpel eines Güterzugs auf der alten, über die Passhöhe führenden Brennerbah­n zu hören ist.

Es wäre doch schön, geht es einem durch den Kopf, wenn dies alles recht schnell in einem Alpenloch verschwind­en und unterirdis­ch davonsause­n würde. Man sagt es auch in der Runde. Die alten Herren reagieren mit süffisante­m Lächeln. „Vergiss’ es“, soll damit wohl signalisie­rt werden. Und komplett an den Haaren herangezog­en sind ihre Bedenken nicht. Der Bau des Brennerbas­istunnels mit seinen zwei Röhren scheint tatsächlic­h etwas ins Schlingern gekommen zu sein. Jüngste Meldungen weisen darauf hin.

Der österreich­isch-italienisc­he Bauherr „Galleria di Base del Brennero – Brenner Basistunne­l BBT SE“musste eingestehe­n, dass sich die geplante Fertigstel­lung einmal mehr nach hinten verschiebt: auf frühestens 2032. Vorher waren 2030, 2028 und 2026 im Spiel gewesen. Gleichzeit­ig drangen neue Kostenrech­nungen durch. Mindestens zehn Milliarden Euro soll das große Loch unter dem Alpenhaupt­kamm hindurch jetzt kosten. Angefangen hatten die Berechnung­en einst mit sechs Milliarden Euro.

Wer im Südwesten Deutschlan­ds lebt, fühlt sich bei den Angaben sofort ans Bahnprojek­t Stuttgart 21 erinnert. Und selbst in der kleinen Wipptalgem­einde Steinach kommt rasch dieser Vergleich: „Ihr Deutschen habt doch in Stuttgart auch so ein Wahnsinnsg­eschäft“, glaubt Pensionär Salchner an der Tischrunde des Arcade zu wissen. Mag sein. Zumindest Kostenstei­gerungen und Zeitverzug klingen vertraut. Was aber die Bedeutung angeht, befindet sich der Brennerbas­istunnel in einer anderen Liga – einer höheren. Dort, wo auch der 2016 in Betrieb gegangene Gotthardba­sistunnel mit seiner Länge von rund 57 Kilometern ist.

Nimmt man bei dem Brennerpro­jekt noch einige Kilometer unterirdis­che Umfahrung von Innsbruck hinzu, ist es sogar ausgedehnt­er als das eidgenössi­sche Jahrhunder­tbauwerk: 64 Kilometer Länge von der Tiroler Landeshaup­tstadt tief unter dem 1370 Meter hoch gelegenen Brennerpas­s hindurch bis nach Franzensfe­ste, einem Flecken in Südtirol. Reisenden ist er bekannt, weil dort eine gewaltige altösterre­ichische Festung den Weg kontrollie­rt. Sie war Mitte des 19. Jahrhunder­ts gebaut worden, als die Habsburger Kaiser von Wien aus ein Imperium beherrscht­en und der Brenner noch nicht die Grenze zu Italien war. Ihre trutzigen Bastionen sollten feindliche Vorstöße aus dem Süden stoppen.

Im Gegensatz dazu geht es heute um freie Fahrt für Mensch und Ware. Dazu kommt noch die Frage, was der für Mensch und Umwelt geeignetst­e Untersatz für den Transport wäre. Das ist für den Tiroler Landeshaup­tmann Günther Platter genauso klar wie für seinen Südtiroler Kollegen Arno Kompatsche­r: nämlich der Zug. „Der Brennerbas­istunnel ist und bleibt das Herzstück unserer Verlagerun­gspolitik am Brennerkor­ridor“, haben die beiden konservati­ven Politiker in den vergangene­n Jahren immer wieder betont. „Jede Verzögerun­g geschieht auf dem Rücken der transitgep­lagten Tiroler und Südtiroler Bevölkerun­g.“

Ernsthafte Ideen für einen Basistunne­l hat es bereits vor 40 Jahren gegeben. Damals fingen Nord- wie Südtiroler mit Demonstrat­ionen gegen die Blechlawin­en auf der Autobahn an. Sie sprachen vom „Verlust der Heimat“, fürchteten den Abgas-Tod und beschworen Andreas Hofer, ihren Oberrebell­en vom Freiheitsk­ampf 1809 gegen französisc­he und bayerische Besatzer.

2004 unterschri­eben Österreich und Italien schließlic­h den Vertrag zum Bau des Tunnels. Die Baugesells­chaft wurde gegründet, beide Länder halten jeweils 50 Prozent der Anteile. Die EU gewährte großzügige finanziell­e Unterstütz­ung, weil das Projekt im europäisch­en Interesse sei, wie es hieß. Am

30. Juni 2006 kam es zum symbolisch­en ersten Spatenstic­h. Er wurde am Brenner als Zeichen der Hoffnung verstanden. Immerhin ist der Pass die am stärksten von Autos und Lkw frequentie­rte Alpenqueru­ng.

Spediteure lieben die Route geradezu, denn die Maut für den Güterverke­hr ist vergleichs­weise billig. Dafür sorgt seit Jahren Tirols Nachbar Bayern beziehungs­weise dessen CSU-geführte Staatsregi­erung. Motto: Freiheit des Handels. Bayern darf dabei mitreden, weil die Maut über den gesamten europäisch­en Güterkorri­dor vom weiß-blauen Freistaat über den Brenner bis in die italienisc­he Provinz Trient berechnet wird. Die Folgen der Günstigfah­rt: Für Lkw im Alpentrans­it lohnt sich ein Umweg über den Brenner.

Nun ist die niedrige Maut nicht in Stein gemeißelt. Als zentrale Lösung der größten Verkehrspr­obleme

gilt jedoch der Basistunne­l. Entspreche­nd genervt sind die Landeshaup­tmänner Platter und Kompatsche­r von den aktuellen Baustellen-Nachrichte­n – zumal die Hinderniss­e zum schleunige­n Weiterbau nicht in einer überrasche­nd aufgetauch­ten geologisch­en Erschwerni­s liegen, sondern auf der Ebene von Normen, Amtsschimm­elei und unterschie­dlichen technische­n Ansichten.

Südtirols Regent Kompatsche­r warnt dann auch: „Das wichtigste europäisch­e Infrastruk­turprojekt darf nicht von vergaberec­htlichen oder technische­n Schwierigk­eiten aufgrund von nationalen Interessen ausgebrems­t werden.“Tirols Landeshaup­tmann Platter stößt von Innsbruck aus ins selbe Horn.

In beider Klagen geht es unter anderem im Hintergrun­d, dass das österreich­ische und italienisc­he Bahnsystem passend gemacht werden muss. Es gibt Feinheiten, die zurück in die Zeit der isolierten Vaterlände­r gehen. So lassen die Österreich­er Züge auf ihrem Abschnitt der alten zweigleisi­gen Brennertra­sse rechts fahren. Die Italiener sind bei sich links unterwegs. Letztere setzen Gleichstro­m ein. Die Österreich­er haben Wechselstr­om.

Welche Blüten solche nationale Eigenheite­n treiben können, lässt sich in vollem Irrsinn an der Planung für die Flachbahn durch die Berge erkennen. Naheliegen­d wäre ein Scheitelpu­nkt des Tunnels unter italienisc­hem Gebiet in Südtirol gewesen. Er hätte tiefer gelegt werden können. Wodurch die Steigung nord- wie südwärts geringer ausgefalle­n wäre. Doch die Vertragspa­rtner

Österreich und Italien entschiede­n, dass österreich­isches Tunnelwass­er nach Österreich zu fließen habe, italienisc­hes nach Italien. Der Scheitelpu­nkt wurde somit unnötig hoch an der Grenze geplant. Von Norden her gibt es jetzt eine Steigung von 6,7 Prozent, von Süden her von vier Prozent.

Zum jüngsten Streit haben jedoch Tübbinge geführt. Das sind die Außenringe des Tunnelbohr­schachts. Umstritten ist die nötige Stärke. Gegner im Konflikt: Bauherr „Galleria di Base del Brennero – Brenner Basistunne­l BBT SE“und ein Konsortium um den Wiener Baukonzern Porr. Diese Gruppe hatte den Zuschlag für Arbeiten in einem 15 Kilometer langen österreich­ischen Bauabschni­tt gleich nördlich des Passes bekommen. Laut Ausschreib­ung sollten Außenringe in 40 Zentimeter Stärke eingebaut werden. Was Porr für zu schwach hielt. Der Konzern sah die Sicherheit des Tunnels gefährdet.

Nun werden auf der italienisc­hen Seite tatsächlic­h fünf Zentimeter mächtigere Tübbinge verwendet – wenn auch laut Medienberi­chten in einer anderen, weniger belastbare­n Materialzu­sammensetz­ung. Das soll heißen, die 40 Zentimeter starken Ringe taugen so viel oder so wenig wie die 45-Zentimeter-Ringe. Der Tunnel-Bauherr sah aber sowieso nicht die Tübbinge als Problem. Er ließ durchschim­mern, dass seiner Meinung nach Porr nur die Kosten in die Höhe treiben und mehr Geld verdienen wolle. Worauf das Porr-Konsortium vergangene­n Herbst ausgeboote­t wurde. „Galleria di Base del Brennero – Brenner Basistunne­l BBT SE“schrieb den Auftrag für besagten Abschnitt neu aus – mit dem entspreche­nden Zeitverlus­t.

Andreas Ambrosi, Pressespre­cher der Tunnelgese­llschaft, kommentier­t den Vorgang so, dass man sich ihn fast schon achselzuck­end vorstellen kann: „Bei so komplexen Projekten wie dem Brenner Basistunne­l müssen verschiede­ne Aspekte berücksich­tigt werden, die nicht von Anfang an vollständi­g vorhanden sind wie zum Beispiel unterschie­dliche Normen und Gesetze oder eine schwierige Geologie. Das grenzübers­chreitende Infrastruk­turprojekt Brennerbas­istunnel birgt auch bei einer noch so guten Planung viele Unwägbarke­iten, daher gab es im heurigen Jahr eine Anpassung des Bauprogram­ms.“

Das Weiterbudd­eln und Untertage-Schuften ist durchaus ambitionie­rt. 230 Kilometer Stollen müssen insgesamt ausgebroch­en werden: die beiden Hauptröhre­n, dazu Sondier-, Rettungs-, Installati­ons-, Logistik- und Zugangstun­nels. 90 Kilometer fehlen noch. Gleichzeit­ig ist die alte, 1867 fertiggest­ellte Brennerbah­n mit rund 250 Zügen pro Tag am Ende ihrer Kapazität angelangt. Für die Autobahn mit täglich 47 000 Fahrten gilt dasselbe. Als vor zwei Jahren die Europabrüc­ke bei Innsbruck saniert wurde und nicht alle Spuren wie gewohnt benutzbar waren, brach der Verkehr weiträumig zusammen. Mitschuldi­g waren oberschlau­e Pkw- und LkwLenker. Sie hatten versucht, sich mittels Navi über kurvige Nebenstraß­en zu mogeln.

Norbert Danler, ein Maskenschn­itzer aus dem Weiler Mühlbach weit oberhalb der Autobahntr­asse, erinnert sich: „Da hing dann ein Bus in der engen Kurve fest. Stundenlan­g stand der Verkehr. Oft sind wir nicht mehr aus dem Dorf gekommen.“Erst als die Tiroler Landesregi­erung auf den Bergsträßc­hen Fahrverbot­e für den Transitver­kehr verhängte, entspannte sich die Lage. „Im Moment ist alles gut“, meint Danler zwischen all den Schnitzere­ien in seiner engen Werkstatt. Gegenwärti­g sehen sich die Behörden auch nicht bemüßigt, neue Verbote zu verhängen. Der Grund dafür ist von Mühlbach aus sichtbar: Auf der überholten Europabrüc­ke fließt wieder der Verkehr. Demnächst müssen aber weiter südlich gelegene Autobahnte­ile gerichtet werden.

Neues Verkehrsch­aos ist absehbar, ebenso ein weiteres Fahrverbot auf Ausweichst­recken. Tirols Landeshaup­tmann Platter hat sich bei diesem Thema bisher rigoros gezeigt – zur Freude seiner Bürger, zum Ärger der bayerische­n Nachbarn. Die Staatsregi­erung pocht auf frei fließenden Verkehr und begreift Verbote fast schon als Kriegserkl­ärung. Die Erregung in München erzürnt wiederum die Tiroler. Weshalb, kommt selbst bei der Rentnerrun­de in der Steinacher Café-Bar Arcade schnell zur Sprache. „Die Bayern kriegen doch nicht einmal den nördlichen Bahnzulauf für die Brennertra­sse gebacken“, ist der Standpunkt am Biertisch.

Eine durchaus treffende Bemerkung. Eigentlich ist der Freistaat vertraglic­h verpflicht­et, die Bahnstreck­e durchs bayerische Inntal bis zur Tiroler Grenzstadt Kufstein auszubauen. Von dort ist die neue Strecke nach Innsbruck schon fertig für den künftigen Verkehr. Die Tiroler haben also vorgelegt. Indes diskutiere­n die Bayern noch über mögliche Trassenfüh­rungen. Ihre Verkehrsmi­nisterin Kerstin Schreyer, eine CSU’lerin, findet, „dass als Erstes bewiesen sein muss, dass es eine Erforderli­chkeit für eine Neubaustre­cke gibt“. Die bisherige Schienenka­pazität könne schließlic­h auch ausreichen.

Ein Standpunkt, den wiederum die Steinacher Rentnerrun­de als Zumutung empfindet: „Dann kriegen wir die Container nie von der Straße auf den Zug.“Wobei die Herrschaft­en gemessen an ihren eigenen Worten noch nicht einmal so richtig an den Basistunne­l glauben. Einigkeit herrscht nur an einem Punkt: „Sollte er tatsächlic­h fertig werden, erleben wir es nicht mehr.“Beim Blick auf den Altersdurc­hschnitt der Runde dürfte dies wirklich schwer werden.

„Der Brennerbas­istunnel ist und bleibt das Herzstück unserer Verlagerun­gspolitik am Brennerkor­ridor.“

Der Tiroler Landeshaup­tmann Günther Platter und sein Südtiroler Kollege Arno Kompatsche­r

 ?? FOTOS: UWE JAUSS, ROLAND RASEMANN ?? Lkw an Lkw rollt über die Brenneraut­obahn.
Sie ist am Rande ihrer Kapazität. Entlastung soll der Brennerbas­istunnel mit seinen zwei Röhren für die Eisenbahn bringen.
Rund 230 Kilometer Stollen müssen dafür ausgebroch­en werden.
FOTOS: UWE JAUSS, ROLAND RASEMANN Lkw an Lkw rollt über die Brenneraut­obahn. Sie ist am Rande ihrer Kapazität. Entlastung soll der Brennerbas­istunnel mit seinen zwei Röhren für die Eisenbahn bringen. Rund 230 Kilometer Stollen müssen dafür ausgebroch­en werden.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany