Kein Rückzug vom Abzug in Afghanistan
Streit in der Union über deutsches Engagement – USA bleiben trotz Taliban-Vormarsch bei ihrer Position
Von Claudia Kling und Agenturen
- Mission irgendwie erfüllt. Das ist die Auffassung der US-Regierung. Das Ziel, sagt der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums John Kirby, sei die Zerschlagung des Terrornetzes al-Kaida in Afghanistan gewesen. Und das Ende der Terrorgefahr, die aus dem Land für die USA ausging. Und jetzt folge man der Ansage des Präsidenten – und das sei nun mal der Truppenabzug.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Afghanistan im Chaos zu versinken droht. Die radikal-islamischen Taliban erobern in kürzester Zeit eine Stadt nach der anderen – Zivilisten kommen bei den Gefechten ums Leben. Alleine in den vier Städten Lashkar Gahr, Kandahar, Herat und Kundus seien seit Mitte Juli mindestens 183 Menschen getötet und 1181 weitere verletzt worden, sagte die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet am Dienstag. Seit Beginn der Offensive der Taliban im Mai seien etwa 214 000 Afghanen vor den Kämpfen geflohen.
Die Ravensburger Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger (Grüne) kommentiert: „Leider zeigen die furchtbaren Nachrichten, dass dies ein überhasteter und planloser Abzug war. Die Chancen für eine bessere Zukunft in Afghanistan waren nie zahlreich und groß, immer wieder sind sie verspielt und verpasst worden. Das gilt ganz besonders auch für die Art und Weise dieses Abzuges, der sich zu einem Desaster entwickelt.“
All das passiert rund drei Wochen, bevor die USA ihre Truppen aus dem Land abgezogen haben wollen und der Kampfeinsatz vorbei sein soll. Kann US-Präsident Joe Biden trotz der dramatischen Entwicklung an seinen Plänen einfach so festhalten? Ja, sagt Sprecher Kirby. Es sei ihr Kampf, sagt er an die Afghanen gerichtet.
Die Haltung der Amerikaner stößt in Deutschland jedoch auf Widerspruch. „Der einseitige und übereilte Abzug aus Afghanistan war ein Fehler“, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). Deutschland müsse darauf drängen, dass die USA „ihre bereits stattfindende Luftunterstützung der afghanischen Streitkräfte intensivieren“. Im Gegenzug müsse die Bundesregierung aber auch selbst bereit sein, etwas zu leisten, um das Land vor den Taliban zu schützen. „Es geht nicht um einen neuen Einsatz am Boden, sondern um Logistik und Material, stellt Röttgen klar.
Mit seiner Forderung stellt sich Röttgen gegen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“sagt: „Die Bilder aus Afghanistan sind schwer auszuhalten und besonders bitter für diejenigen, die dort im Einsatz waren.“Sie könne daher die Diskussion über ein erneutes Eingreifen in Afghanistan nachvollziehen. Gleichzeitig gelte: „Aber wer sich für einen neuen Einsatz ausspricht, muss wissen, dass er in einen Krieg geht, und das wird ein verlustreicher Krieg sein. Wenn man diese Bereitschaft nicht hat, dann bleibt der gemeinsame Abzug der internationalen Streitkräfte die richtige Entscheidung.“
Kritik an Röttgens Forderung kommt auch von der grünen Verteidigungsexpertin Brugger: „Wer jetzt leichtfertig neue Militäreinsätze fordert, hat aus den letzten Jahren nichts gelernt.“
Ein weiterer Streitpunkt: die Sicherheit der afghanischen Ortskräfte, die der Bundeswehr jahrelang gedient hatten. Hier stellt die Ministerin klar: „Es liegt nicht an der deutschen Bürokratie, dass die afghanischen Ortskräfte nicht das Land verlassen können.“Und Kramp-Karrenbauer spielt den Ball an die afghanische Regierung zurück: „Die Regierung in Kabul ist nicht bereit, diese Menschen ohne Reisepass ausreisen zu lassen, kommt aber mit dem Ausstellen der Dokumente nicht hinterher. Unserer Bitte, darauf zu verzichten, wurde bislang nicht nachgekommen.“
Auch der CDU-Außenpolitiker Röttgen hat Sorgen, sollte Afghanistan sich selbst und somit den Taliban überlassen werden. „Dass das Land dann nicht wieder eine Brutstätte von Terror wird, der vor allem uns in Europa bedroht, ist nicht gesichert“, sagt er der „Schwäbischen Zeitung“. „Nach 20 Jahren Einsatz zu sagen, das sei eine afghanische Angelegenheit, ist wirklich absurd und beschämend.“Es gehe nicht darum, aus Afghanistan eine moderne Demokratie zu machen. Aber man dürfe nicht dabei zuschauen, „wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren“, mahnt der CDU-Außenpolitiker. „Das wäre eine massive Selbstbeschädigung unserer Glaubwürdigkeit.“