Brexit-Folgen auch auf europäischen Konzertbühnen
Komplizierte Visa- und Transport-Regelungen verhindern Auftritte britischer Künstler in der EU
- Im britischen Ministerium DCMS (Department for Digital, Culture, Media and Sport) sind die Zuständigkeiten für Digitales und Sport, Kultur und Medien gebündelt. Aus dem Haus von Minister Oliver Dowden kam vergangene Woche eine frohe Nachricht für Spitzenmusiker: Kurze Konzertreisen in 19 EU-Staaten, darunter auch Deutschland, Frankreich und Italien, seien trotz des EUAustritts weiterhin ohne teure Visa oder Arbeitsgenehmigungen möglich. Prompt war in den Zeitungen beiderseits des Ärmelkanals von einer „Einigung“und einem wichtigen Fortschritt die Rede. Doch das sehen die Künstler anders: Die Regierung habe nur längst Bekanntes wiederholt, hieß es in der Branche, viele Probleme rund um die lukrativen Europa-Tourneen bekannter Bands und Orchester seien unverändert. „Enttäuscht“äußerte sich Popikone Elton John.
Im ersten Halbjahr des Jahres kam die normalerweise rege Konzerttätigkeit
berühmter Künstler wie die des Sängers Ed Sheeran oder der Geigerin Nicola Benedetti wegen der Corona-Pandemie zum Erliegen. Nun, da Covid-Impfungen das grenzüberschreitende Reisen vereinfachen, treten die Probleme schärfer zutage, die durch Großbritanniens Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt entstanden sind. In den Verhandlungen über zukünftige Vereinbarungen sei man von der Regierung „auf beschämende Weise im Stich gelassen“worden, schrieben Prominente wie Simon Rattle, Sting und die Sex Pistols im Januar.
Denn für die lukrativen Auslandstourneen – insgesamt trug die Branche vor 2019 jährlich rund 6 Milliarden Pfund (7,1 Mrd Euro) zur britischen Volkswirtschaft bei – seien nun teure Arbeitserlaubnisbewilligungen und ein Berg von Formularen für die Ausrüstung notwendig. Tatsächlich dürfen nach jetzigem Stand beispielsweise britische Roadies die wertvollen Container mit Instrumenten und Verstärkern zukünftig nur noch in drei EU-Städte lenken; dann muss eine im Binnenmarkt registrierte Zugmaschine übernehmen. De facto führt dies dazu, dass sämtliches Material nach der Ankunft auf dem Kontinent in Lastwagen mit EU-Kennzeichen umgeladen werden muss.
Zwingend erforderlich ist auch das Zolldokument Carnet ATA für das nötige Equipment. Dafür liegen die Kosten bei 319 Euro für bis zu 11 820 Euro teures Gerät. Künstler wie Elton John bezahlen das aus der Portokasse. Für die vielen kleinen Bands, die den Ruf britischer Pop-Avantgarde begründet haben, können solche Beträge die ohnehin knappe Kalkulation zunichtemachen, zumal die Carnet-Beschaffung eine komplexe Angelegenheit bleibt. Zusätzlich muss bei der Ausreise aus jedem EU-Mitgliedsland die Mehrwertsteuer für die verkauften Merchandise-Artikel abgeführt werden, was bisher nur in Norwegen und der Schweiz nötig war.
An diesem „komplexen Alptraumszenario aus Visumgebühren,
Importbeschränkungen, Versicherungsund Steuerproblemen“, so der erfahrene Musiker und Journalist Robert Rotifer im „Rolling Stone“, hat die Mitteilung des Ministeriums, die sich beispielsweise auch auf Österreich und die Benelux-Staaten bezieht, nichts geändert. „Die Regierung hat weder Verständnis noch Wertschätzung für unsere Branche“, wettert David Martin, Leiter der Lobbygruppe Features Artists Coalition (FAC). Der Eindruck, man habe Erleichterungen oder gar eine Art von Durchbruch erzielt, sei falsch. Auch bleibe der Begriff „kurze Konzertreisen“ungeklärt.
Diplomaten in London bestätigen dies: Eine Verbesserung der Lage oder bilaterale Vereinbarungen habe es „soweit wir wissen“nicht gegeben, heißt es beispielsweise bei der österreichischen Botschaft. Der Hinweis auf Visa führt jedenfalls nicht weiter: Britische Künstler dürfen in Österreich bis zu vier Wochen lang visumsfrei auf Tournee gehen, in Staaten wie Frankreich und Deutschland
sogar für 90 Tage. Beide Regelungen gelten seit 1. Januar. Bei Tourneen geht es aber um den grenzüberschreitenden Verkehr in den vielen einzelnen Nationalstaaten der Gemeinschaft. Diese stellt immerhin einen viermal so großen Markt für die Musikbranche dar wie etwa die USA.
Dementsprechend gereizt reagierten Promoter und Lobbyisten auf ein Interview des Finanzministers mit der Branchen-Website NME. Darin wies Rishi Sunak auf das kürzlich abgeschlossene Handelsabkommen seiner Brexit-Regierung mit Australien hin – „ein 16 000 Kilometer entferntes Land mit einer Bevölkerung von der Hälfte Spaniens“, wie Martin kopfschüttelnd konstatiert. Hingegen mochte sich der Verwalter der Staatskasse nicht dazu herbeilassen, eine spezifisch auf die Spitzenmusiker, ihre Bands und Orchester zugeschnittene Exportbeihilfe zu unterstützen.
Die höchstens halbwahre Mitteilung des Kulturministeriums vergangene Woche spiegelt wider, wie die Regierung von Premier Boris Johnson
mit den Problemen des von ihr durchgesetzten Brexit umgeht. Auf allen Politikfeldern suchen die Ministerialbeamten das bilaterale Gespräch, Kontakte mit der EU in Brüssel werden möglichst vermieden. Innenministerin Priti Patel behauptete kürzlich im Parlament, ihr Haus sei „in aktiven Diskussionen“mit den Anrainerstaaten Frankreich, Niederlande und Belgien über die Rücknahme abgewiesener Asylbewerber. Während sich Berlin in diplomatisches Schweigen hüllt, teilte der belgische Botschafter in London der „Financial Times“glasklar mit: „Solche Gespräche mit Belgien gibt es nicht.“
Wie geht es nun für britische Musiker weiter? Das bleibt einstweilen im Dunkeln, jedenfalls aus Sicht von Deborah Annetts vom Fachverband ISM mit seinen 11 000 Mitgliedern. Nach der „irreführenden Mitteilung“, berichtete Annetts auf Twitter, habe das Ministerium ein lang anberaumtes Gespräch mit Lobbygruppen Ende vergangener Woche hastig abgesagt.