Im engmaschigen Netz der Stasi
Vor wenigen Wochen jährte sich zum 40. Mal ein besonders düsteres Kapitel der Geschichte der DDR. „Nahschuss“erinnert nicht nur im Titel daran, sondern lehnt seine Geschichte auch stark an den damit verbundenen Fall des ehemaligen Stasi-Hauptmanns Werner Teske an. Wer mit diesem nicht vertraut ist, sollte vielleicht erst nach dem Kinobesuch des Films von Franziska Stünkel zu recherchieren beginnen und etwa die Teske-Biografie von Gunter Lange lesen (Ch. Links Verlag).
Auch wenn diese den gleichen Titel wie der Film trägt, handelt es sich hier um keine Buchverfilmung. Vielmehr hat Stünkel, die sich bisher vorwiegend als Fotokünstlerin und Regisseurin von Musikvideos einen Namen gemacht hat, sieben Jahre Vorarbeit in den Film investiert, für den sie auch das Drehbuch geschrieben hat. Das Leben Teskes diente dabei als Vorlage, Stünkel nimmt sich aber auch künstlerische Freiheiten, die dazu beitragen, die beklemmende Atmosphäre des Films weiter zu verdichten.
Zu Beginn erlebt man in kurzer Abfolge zwei Ausgaben des Wissenschaftlers Franz Walter (Lars Eidinger): Die eine befindet sich offenbar als Angeklagter in einem Prozess und versucht, sich zu erklären. Die andere ist ein ehrgeiziger Nachwuchswissenschaftler. Der hat gerade an der Ostberliner Humboldt-Universität promoviert und freut sich nun auf einen einjährigen Studienaufenthalt im sozialistischen Bruderland Äthiopien. Die Wohnung ist aufgelöst, von den Fußballkumpels hat Franz Abschied genommen und seiner Freunverbundene din Corina (Luise Heyer) macht er in der letzten Nacht einen spontanen Hochzeitsantrag, aufgemalter Ring inklusive.
Doch der große Trip endet, bevor er überhaupt angefangen hat: Im Flugzeug wird Franz aufgefordert, wieder auszusteigen. Er wird in eine konspirative Wohnung gefahren. Dort warten allerdings erfreuliche Nachrichten: Seine Professorin (Victoria Trautmannsdorff) verkündet, dass er für ihre Nachfolge auserkoren sei. Natürlich hat alles seinen Preis, und so muss der Wissenschaftler sich zunächst für die Arbeit bei der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der Staatssicherheit verpflichten, und damit „seinen Beitrag für den fortwährenden Frieden in der DDR leisten“.
Franz willigt ein und kommt auch gleich zum Einsatz: Der Fußballer Horst Langfeld (Leon Högehoge) ist nach Westdeutschland geflogen und bringt dort nun als Spieler beim HSV den Klassenfeind zum Jubeln. Wie viele autoritäre Regime bis heute legte auch die DDR gesteigerten Wert auf sportliche Erfolge und das damit
Prestige. Daher verkünden Franz’ neue Arbeitgeber, dass diese Schmach auf keinen Fall akzeptiert werden könne; mit seinem direkten Vorgesetzten Dirk Hartmann (Devid Striesow) soll er zunehmend Druck auf Langfeld ausüben. Der karrierebewusste Wissenschaftler und Fußballfan macht zunächst bereitwillig mit und genießt die Gelegenheit, für seinen Einsatz auch in den Westen reisen zu können. Je drastischer die Methoden aber werden, umso mehr kommen ihm Zweifel an seiner Arbeit. Doch dem engmaschig gestrickten Stasi-Geflecht aus Beziehungen und Abhängigkeiten kann man kaum entkommen.
Stünkel gelingt es in ihrem Film, das Ausgeliefertsein an das System auf der individuellen Ebene zu vermitteln. Dazu trägt zum einen die Handlung bei, etwa wenn Franz erst in den Westen reisen darf, nachdem er Corina formell geheiratet hat, mit reichlich Stasi-Belegschaft unter den Hochzeitsgästen. Auch im privaten Umfeld wird Wert darauf gelegt, dass enge Kontakte zu den anderen Mitarbeitern der Abteilung und ihren Familien
bestehen. Zum anderen unterstreichen aber auch die filmischen Mittel die Situation von Franz. Es gibt keine Szene im gesamten Film, in der er nicht zu sehen ist. Zudem bleibt die Kamera ganz nah an den Personen dran, auf Übersichtseinstellungen wird verzichtet. Auch begleitende Filmmusik gibt es kaum. Wenn dann doch einmal ein Song wie der CityKlassiker „Am Fenster“eingesetzt wird, hat dies dementsprechend eine besonders intensive Wirkung.
Somit durchlebt man den Film also durchgehend mit Franz, und Lars Eidinger gibt alles, um diese Erfahrung so eindringlich wie möglich zu gestalten. Seine Figur führt er zunächst als recht zufriedenen Zeitgenossen ein, der sich mit zunehmender Dauer aber immer mehr in sein Inneres zurückzieht, zur Flasche greift und auch seine Frau auf Distanz hält. Lange spiegelt nur sein Gesicht wider, wie es in ihm arbeitet. Umso mehr erschüttern dann die Gefühlsausbrüche des in die Enge getriebenen Franz.
„Nahschuss“bleibt aber keine Eidinger-Solo-Show, auch die übrigen Darsteller überzeugen. So lässt Striesow seine Rolle zwischen jovial und bedrohlich schwanken, und selbst kleinere Rollen wie die von Franz’ regimekritischem Vater (Christian Redl) hinterlassen Eindruck. All dies macht „Nahschuss“zu einem sehenswerten Beitrag zu einem weniger bekannten Aspekt der DDR-Geschichte und der immer wieder neu aufgeworfenen Frage, ob es ein richtiges Leben im falschen geben kann.
Regie: Franziska Stünkel, Deutschland 2021, 116 Minuten. Mit Lars Eidinger, Devid Striesow, Luise Heyer.