Die Leere und die Sehnsucht
Kino nach dem Lustprinzip und neue Werte braucht die Jugend – Das Filmfestival von Locarno stellt sich neu auf
LOCARNO - Großes Pech für Hannah Herzsprung und Julia Jentsch. Für die beiden deutschen Schauspielerinnen, Stars des Historiendramas „Monte Veritá“von Stefan Jäger, fiel die heiß ersehnte Weltpremiere vor bis zu 8000 Zuschauern am vergangenen Samstag buchstäblich ins Wasser. Sechs Stunden lang ergoss sich der Himmel über Locarno, nicht „wie aus Eimern“, sondern eher wie aus Feuerwehrschläuchen.
Auch das ist Locarno, wo nie nur strahlender Sonnenschein herrscht. Aber für das Team war es in diesem Jahr deshalb besonderes Pech, weil der neue Festivaldirektor, der Italoschweizer Gionna Nazzaro, in seinem ersten Jahr und dem Jahr null nach Corona eigentlich mit den äußeren Umständen besonderes Glück hatte: Bis auf besagten Samstag war das Wetter ideal.
Und nicht nur das Wetter. Auch bei den Filmen hatten der neue Chef und seine Auswahlkommission bislang eine gute Hand. Nazzaro beschwört glaubwürdig das „Lustprinzip“,
betont, dass er sich für alle Spielarten des Kinos interessiert, für Kunst und Experimentelles, aber ebenso auch für Genre und für Filme, die auf den großen amerikanischen Streamingportalen laufen.
Man kann darum sagen: Locarno kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Denn in seinen ersten 20 Jahren war Locarno, das kleinste unter den großen Festivals Europas, die Entdeckungsplattform für den Filmnachwuchs. Hier zeigte man erste Arbeiten, auch Unfertiges; hier wurden die Regiestars von morgen und übermorgen entdeckt: Der Italiener Marco Bellocchio, der Franzose Claude Chabrol, der ungarische Solitär Bela Tarr, der spätere New Hollywoodheld John Frankenheimer, aber auch Jim Jarmusch, Stanley Kubrick, Milos Forman und viele andere erlebten hier mit einem Goldenen Leoparden ihren Durchbruch.
Über Jahrzehnte war kaum ein Preisträger in Locarno älter als 40 Jahre. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das, mit dem europäischen Autorenkino alterte auch das Festival und wurde zunehmend das, was das Städtchen Locarno schon immer gewesen war: ein Kurort für die Senioren unter den Filmemachern.
2021 nun trifft man wieder auf junge, relativ unbekannte Namen. Dazu gehört der Franzose Bertrand Mandico, der mit „Paradis Sale“einen durchgeknallten kunterbunten dabei klugen Fantasy-Film zeigte, der wirkt wie eine Mischung aus „Barbarella“(von Roger Vadim), „Valerian“(Luc Besson) und „Pola X“(Leos Carax). Oder die Spanierin Neus Ballus, deren humanistischer „The Odd-JobMen“eine facettenreiche Komödie ist, der es bei allem Humor gelingt, die Wirklichkeit nicht auszublenden, sondern als Witz zu verstehen.
Weniger Geglücktes gehört auch dazu: Der Deutsche Franz Rogowski spielt eine Hauptrolle im österreichischen Spielfilm „Luzifer“, einem Drama um eine Teufelsaustreibung. Dieses ließ viele Zuschauer am Ende ratlos zurück: Kino darf alles, sogar langweilen. Aber man sollte am Schluss besser nicht fragen müssen, wozu der Film nun gemacht wurde.
Im zweiten Wettbewerb „Concorso Cineasti del presente“, den man qualitativ immer schwerer vom Hauptwettbewerb unterscheiden kann, lief der deutsche Beitrag „Niemand ist bei den Kälbern“von Sabrina Sarabi. Einmal mehr ein toller Auftritt von Saskia Rosendahl, die hier ganz anders erscheint und spielt, als in ihren letzten Rollen wie in „Fabian“(noch im Kino) und „Mein Ende Dein Anfang“. Sie spielt Christin, ein Landgirl, das voller Sehnsucht ist und zugleich ohne Perspektive. Man könnte sagen: Dies ist ein deutscher Western mit großen Landschaftsbildern, Bildern mit einer Weite, die einen sogar an Amerika denken lassen. An das Amerika von Andrea Arnold, getränkt von latenter Depression.
Die Frauen gehen, die Bauern bleiben in diesem schönen, stimmungsvollen, ungewöhnlichen deutschen Film. Rosendahl gibt Christin Würde und Charme. Am Ende steht ein Aufbruch nach Nirgendwo. Besser als kein Aufbruch.
Als Spiegel und Pulsmesser des zeitgenössischen Kinos wirkt immer die in Locarno traditionell besonders wichtige Retrospektive. Sie gilt diesmal dem hierzulande relativ unbekannten Italiener Alberto Lattuada (1914-2005). Er hat das ganze 20. Jahrhundert über das italienische Kino mitgeprägt und ist eine merkwürdige und interessante Figur. Er gehörte weder zum Neorealismus noch zu bestimmten Genres und findet sich in keinem Pantheon des heiligen Autorenfilms. Ein Eklektiker, der an Bildern mehr interessiert war als an Geschichten und zugleich einige scharfe kritische Analysen bürgerlicher Verhältnisse auf die Leinwand brachte.
Sein Hauptinteresse gilt aber der Liebe, dem Sex und der Schönheit: Etwa in seiner Produktion „Cosi Come Sei“, in dem 1978 Marcello Mastroianni und Nastassja Kinski ein ungleiches Liebespaar spielen – schon damals hatte der Film etwas leicht Skandalöses. Doch nach 45 Jahren bleibt vor allem die Schönheit der beiden Hauptdarsteller und ihre Schauspielkunst. Tatsächlich ist Kinski hier so gut wie nie und begegnet einem selbstironischen Mastroianni auf Augenhöhe. Eine Entdeckung!