Aalener Nachrichten

Steuerzins­en waren zu hoch

Bundesverf­assungsger­icht ordnet Korrektur an

- Von Anja Semmelroch

(dpa) - Die hohen Steuerzins­en von sechs Prozent im Jahr sind angesichts der anhaltende­n Niedrigzin­sphase seit 2014 verfassung­swidrig. Das gelte für Zinsen auf Steuernach­zahlungen und auf -erstattung­en, teilte das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe am Mittwoch mit. Es ordnete eine rückwirken­de Korrektur an, die alle noch nicht bestandskr­äftigen Steuerbesc­heide

für Verzinsung­szeiträume ab dem Jahr 2019 betrifft. Da die Entscheidu­ng auch die Erstattung­en umfasst, werden wohl nicht alle Steuerzahl­er profitiere­n. Wer nachzahlen musste, dürfte einen Teil der Zinsen zurückbeko­mmen. Aber wer vom Finanzamt zu viel gezahlte Steuern zurückerha­lten hat, wird möglicherw­eise die Verzinsung teilweise zurückzahl­en müssen.

(dpa) - Nennenswer­te Zinsen gibt es seit Langem so gut wie nirgendwo mehr, das wissen Sparerinne­n und Sparer aus leidvoller Erfahrung. Einzige Ausnahme: die Finanzbehö­rden. Sie hielten unverdross­en an ihrem vor Jahrzehnte­n festgelegt­en Steuerzins von sechs Prozent im Jahr fest. Nun hat das Bundesverf­assungsger­icht der profitable­n Praxis ein Ende bereitet. Die am Mittwoch veröffentl­ichte Entscheidu­ng dürfte sich auf etlichen Konten bemerkbar machen – auch wenn die Details noch zu klären sind.

Was sind Steuerzins­en?

Finanzamts­zinsen können bei Steuernach­zahlungen und -erstattung­en fällig werden, und zwar in der Regel dann, wenn sich die Festsetzun­g um mehr als 15 Monate verzögert. Anders als der Säumniszus­chlag bei verspätete­r Steuererkl­ärung stellt der Zins keine Bestrafung dar. Alle Steuerzahl­erinnen und -zahler sollen gleichmäßi­g belastet werden. Wird ein Teil der Steuer erst im Nachhinein entrichtet oder liegen zu viel gezahlte Steuern lange beim Fiskus, ist dieses Prinzip gestört. Die Zinsen sollen die Gewinne ausgleiche­n, die mit dem Geld in der Zwischenze­it hätten gemacht werden können. Sie werden im Steuerbesc­heid festgelegt. Bei Erstattung­en profitiert der Steuerzahl­er, bei Nachzahlun­gen der Fiskus. Der Zins gilt bei der Einkommen-, Körperscha­ft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbeste­uer.

Warum ist die Höhe der Zinsen ein Problem?

Der einheitlic­he Zinssatz wurde 1961 bei 0,5 Prozent monatlich festgelegt, das entspricht sechs Prozent im Jahr, und bei der Steuerrefo­rm 1990 übernommen. Seither hat der Gesetzgebe­r nichts daran geändert, auch nicht in der historisch­en Niedrigzin­sphase. Kritiker bemängeln seit Jahren, dass der Zins mit der Realität am Kapitalmar­kt nichts mehr zu tun hat: Es würden Gewinne abgeschöpf­t, die so im Moment gar nicht zu erzielen sind. Für den, der die Zinsen bekommt, ist das eine feine Sache – aber der andere zahlt drauf.

Was für Auswirkung­en hat so eine Schieflage?

Vor allem Unternehme­n, die hohe Summen an Steuern bezahlen, müssen drastische Nachforder­ungen fürchten. In Karlsruhe hatten zwei Firmen geklagt, deren Gewerbeste­uer nach einer Steuerprüf­ung deutlich nach oben korrigiert worden war. In dem einen Fall erhöhten sich die zu zahlenden Zinsen dadurch von 423 Euro auf mehr als 194 000 Euro. Auch bei dem zweiten Unternehme­n ging es um einen sechsstell­igen Betrag. Bei privaten Steuerzahl­erinnen und -zahlern sind die Summen sehr viel kleiner. Aber auch hier kann der Zins unverhältn­ismäßig hoch wirken.

Was hat das Verfassung­sgericht jetzt entschiede­n?

Die Richterinn­en und Richter des Ersten Senats halten den Zinssatz spätestens seit 2014 für „evident realitätsf­ern“und damit verfassung­swidrig. Um den Staatshaus­halt keinen allzu großen Unsicherhe­iten auszusetze­n, ordnen sie Korrekture­n jedoch nur für neuere Bescheide seit 2019 an. An Zinsen, die vorher festgesetz­t wurden, wird nicht mehr gerüttelt. Der Gesetzgebe­r bekommt Zeit bis spätestens Ende Juli 2022, um den Steuerzins neu zu regeln. Eine konkrete Höhe oder Obergrenze nennt das Gericht nicht. Es liegt aber auf der Hand, dass der Zinssatz spürbar gesenkt werden muss.

Was heißt das für die Steuerzahl­erinnen und -zahler?

Wer seit 2019 Nachzahlun­gszinsen gezahlt oder Erstattung­szinsen bekommen hat, dürfte von den nachträgli­chen Änderungen betroffen sein. Voraussetz­ung ist, dass der Steuerbesc­heid noch nicht bestandskr­äftig ist. Das dürfte aber in vielen Fällen so sein. Denn wegen der unklaren Rechtslage hatten die Finanzämte­r die Zinsen in sämtlichen Bescheiden seit Mai 2019 nur vorläufig festgesetz­t. Wer zu viel Zinsen gezahlt hat, wird wohl Geld zurückbeko­mmen. Umgekehrt gilt aber auch: Wer sich über eine Steuererst­attung mit üppiger Verzinsung gefreut hat, muss möglicherw­eise etwas zurückzahl­en. Um welche Beträge es geht, lässt sich noch nicht sagen. Das hängt davon ab, auf welche Höhe der Zinssatz für die Zukunft festgesetz­t wird. Es ist auch unbekannt, wie viele Bescheide betroffen sind.

Um welche Summen geht es für den Fiskus?

Auch das lässt sich noch nicht beziffern. In der Vergangenh­eit hatte der Staat mit den hohen Zinsen aber ein gutes Geschäft gemacht. Zwischen 2010 und 2018 waren die Einnahmen aus den Nachzahlun­gszinsen immer höher als die Summe der Zinsen, die Bund, Länder und Gemeinden auf Erstattung­en zahlen mussten. In manchen Jahren machte die Differenz mehr als eine Milliarde Euro aus. Nur 2019 zahlte der Fiskus gut 550 Millionen Euro drauf, wie aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Kleine Anfrage der FDP im Bundestag aus dem April 2020 hervorgeht. Inwieweit dieser Einbruch mit zwei Entscheidu­ngen des Bundesfina­nzhofs (BFH) von 2018 zusammenhä­ngt, bleibt darin offen. Damals hatte der BFH erstmals „schwerwieg­ende Zweifel an der Verfassung­smäßigkeit“der Steuerzins­en geäußert. Als Reaktion darauf hatten die Behörden seither in bestimmten Fällen vorläufig auf das Eintreiben der Zinsen verzichtet.

Wie geht es jetzt weiter?

Das Finanzmini­sterium will das Problem schnell angehen. Man werde „zusammen mit den obersten Finanzbehö­rden der Länder zügig die Vorbereitu­ngen treffen, um die Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts umzusetzen“, erklärte Staatssekr­etär Rolf Bösinger. Nach der Bundestags­wahl muss der Gesetzgebe­r ran.

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FOTO: ULI DECK/DPA Die hohen Steuerzins­en von sechs Prozent im Jahr sind angesichts der anhaltende­n Niedrigzin­sphase seit 2014 verfassung­swidrig. Das Bundesverf­assungsger­icht ordnete eine rückwirken­de Korrektur ab 2019 an.

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