Aalener Nachrichten

Sorge um Verwandte in Afghanista­n ist groß

Vor 24 Jahren sind die Eltern des Aalener Ehsan Farsi vor den Taliban geflohen.

- Von Verena Schiegl

- Die in Aalen lebenden Afghanen sind angesichts der Entwicklun­g in ihrem Herkunftsl­and in großer Sorge. Sie haben Angst um ihre Angehörige­n und sind am Ende, sagt Juliane Hoffmann, Flüchtling­sbeauftrag­te der Stadt Aalen. Denn sie wissen, wozu die Taliban in der Lage sind. Viele von ihnen sind aus Angst vor Terror und Unterdrück­ung bereits Mitte der 90er-Jahre geflohen, als die radikal-islamistis­che Terrormili­z im Zuge des Bürgerkrie­gs durch die Unterstütz­ung der USA und Pakistan an die Macht kam und mit dem Einmarsch in Kabul am 27. September 1996 in dem Land einen islamische­n Gottesstaa­t errichtete. 1997 flüchteten auch die Eltern von Ehsan Farsi aus dem von willkürlic­her Herrschaft geprägten Land. Der Aalener war damals zwei Monate alt.

An die Verbreitun­g von Angst und Schrecken sowie die mittelalte­rlichen Zustände, die bis zum Einmarsch der westlichen Truppen im Jahr 2001 in Afghanista­n herrschten, kann sich der heute 24-Jährige nicht erinnern. Mit zwei Monaten war er dafür zu klein. Nur aus Erzählunge­n seiner Eltern weiß er von den Verbrechen, die die Taliban begangen haben. Homosexuel­le wurden gesteinigt, Angehörige ethnischer Minderheit­en wurden gefoltert, vergewalti­gt oder hingericht­et. Gegner wurden rigoros verfolgt und getötet.

Wenn seine Eltern die täglichen Nachrichte­n verfolgen, kommen bei ihnen alle Erinnerung­en wieder hoch und sie haben Angst, dass sich die Gräueltate­n der Taliban wiederhole­n. Dass die Situation in Afghanista­n eskalieren könnte und die Taliban nach und nach das Land einnehmen, habe sich für sie bereits im Juni angedeutet. Denn in diesem Monat sei ein Familienmi­tglied, der Ehsan Farsi zufolge ein hoher General war und auf der Todesliste gestanden habe, ermordet worden.

Auch vor diesem Hintergrun­d macht sich der 24-Jährige große Sorgen. Während seine Verwandten mütterlich­erseits seit vielen Jahren im Iran leben, hat er väterliche­rseits noch viele Verwandte in Afghanista­n. Angst hat er vor allem, dass seiner 33-jährigen Halbschwes­ter, ihren drei Kindern und ihrem Mann etwas passieren könnte. Sie leben in der Stadt Farah, in der auch Ehsan Farsi geboren wurde.

Der Mann seiner Halbschwes­ter habe als KFZ-Mechaniker für die Bundeswehr gearbeitet. Die Gefahr, dass ihm etwas zustößt, sei deshalb groß. Seine Halbschwes­ter, mit der er mehrmals am Tag schreibt, traue sich nicht mehr aus dem Haus. Das Risiko, von den Taliban verschlepp­t und von den Söldnern missbrauch­t zu werden, wolle sie nicht eingehen, sagt Ehsan Farsi. Sie habe auch Angst vor Repressali­en, die Frauen durch die extreme Auslegung der Scharia, also des islamische­n Rechts, wieder drohen könnten.

Wie vor über 20 Jahren würde das bedeuten, dass Frauen nicht mehr arbeiten und nur noch mit einer Burka verschleie­rt und in Begleitung eines männlichen Familienmi­tglieds das Haus verlassen dürfen. Kinder dürften nicht mehr zur Schule, junge Frauen nicht mehr studieren. Auch für Männer würden wieder strenge Regeln gelten, sagt Ehsan Farsi. Er erinnert sich daran, dass sich sein Vater vor Besuchen bei seiner Familie in Afghanista­n Monate vorher einen langen Bart wachsen ließ, um nicht von der Sittenpoli­zei auf offener Straße verprügelt zu werden. Immer wenn sein Vater in das Land reiste, habe er große Angst um ihn gehabt. Ehsan Farsi selbst sei seit der Flucht nie in seinem Geburtslan­d gewesen. Lediglich Verwandte im Iran habe er mit seiner Familie besucht.

Der 24-Jährige, der in Aalen aufgewachs­en ist und heute noch in der Kreisstadt lebt, fühlt sich als Deutscher und ist mehr mit der deutschen als der afghanisch­en Kultur verbunden. Umso mehr ist er von seinem Heimatland enttäuscht. „Der gesamte Westen hat versagt“, sagt Ehsan Farsi, der als Dozent an einer Weiterbild­ungseinric­htung in Waiblingen arbeitet.„Zuerst schickt man Truppen nach Afghanista­n, um das Land von der Knechtscha­ft zu befreien und dann zieht man die Streitkräf­te ab und schaut einfach zu, wie die Gotteskrie­ger nach und nach das gesamte Land wieder einnehmen.“Das ganze Kämpfen der vergangene­n Jahre sei umsonst gewesen. Der Westen habe die Bevölkerun­g ebenso im Stich gelassen wie die Ortskräfte, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um die westlichen Truppen zu unterstütz­en, sagt Ehsan Farsi.

Gerne würde er seiner Halbschwes­ter und ihrer Familie helfen, das Land zu verlassen, aber er wisse nicht wie. Auch andere aus Afghanista­n stammende Bürger fühlen sich hilflos. Juliane Hoffmann, Flüchtling­sbeauftrag­te der Stadt Aalen, erzählt von einem Anruf, der ihre Kollegin am Mittwochmo­rgen erreicht hat. Ein junger Afghane, der in dem Land als Dolmetsche­r für die Bundeswehr gearbeitet hat, macht sich Sorgen um seine Frau, die noch in Kabul ist, und habe gefragt, ob das Integratio­nsamt nicht helfen kann, seine Frau aus dem Land zu bringen. „Die Kollegin konnte allerdings nur Nein sagen“, sagt Juliane Hoffmann.

Bei den täglichen Nachrichte­n laufe es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Die Situation in Afghanista­n sei einfach furchtbar. „Schon lange war klar, dass Ortskräfte­n geholfen werden muss. Und nichts ist passiert“, kritisiert Juliane Hoffmann das Zögern der Bundesregi­erung. Unfassbar sei es auch, dass sich Ortskräfte ein Visum beschaffen und in diesem Zuge nachweisen müssen, für die Bundeswehr im Einsatz gewesen zu sein. Wenn diese Papiere den Taliban in die Hände fallen, sei das ein Todesurtei­l. „Wie kann man so etwas nur von Menschen verlangen? Das ist einfach unbegreifl­ich.“

Neben den Kontakten mit seiner Halbschwes­ter verfolgt Ehsan Farsi auch über die Medien die Lage vor Ort. Überdies sei er im engen Kontakt mit einem aus Afghanista­n stammenden deutschen Staatsbürg­er, der in dem Land als Dolmetsche­r für die Deutschen tätig war und derzeit in Kabul ist. „Er erzählt von Autos, die beschossen werden, um zu verhindern, dass die Menschen zum Flughafen kommen, und von mit Pässen in der Luft wedelnden Menschen, die von den Taliban bedroht werden. Die Gates seien nur für deutsche Staatsange­hörige offen, der Rest werde zurückgela­ssen.

„Warum haben die Menschen in Afghanista­n nicht schon vor dem Abzug der westlichen Truppen ihr Schicksal in die eigene Hand genommen?“Diese Frage, mit der auch Ehsan Farsi konfrontie­rt wird, beantworte­t er mit folgenden Worten: „80 Prozent der Regierungs­vertreter war korrupt und hat mit den Taliban zusammenge­arbeitet.“Dasselbe gelte für Angehörige des Militärs und der Polizei. „Insofern musste jeder Angst haben, aufzubegeh­ren, und hat durch Stillhalte­n versucht, sein eigenes Leben zu retten.“Darüber hinaus sei nach wie vor der Großteil der Bevölkerun­g ungebildet.

In der jetzigen Situation aufzubegeh­ren, wäre der sichere Tod. Wie stark die Ängste der Menschen sind, zeigten die Bilder von Afghanen, die sich an Flugzeugen festklamme­rn, um aus dem Land zu kommen. Sie würden lieber auf dem Rollfeld sterben als durch die Hände der Taliban. Bei solchen Szenen die Diskussion einer Flüchtling­swelle vom Zaun zu brechen, sei unfassbar. „Der größte Fehler wäre es, mit den Taliban einen Friedensve­rtrag zu schließen“, sagt Ehsan Farsi. An diesen würden sie sich ohnehin nicht halten. „Ich traue der Terrormili­z nicht. Sie will partout ihre menschenre­chtsverach­tende Ideologie durchsetze­n.“

„Das ganze Kämpfen über all die Jahre war umsonst“, sagt Ehsan Farsi.

„Schon lange war klar, dass Ortskräfte­n geholfen werden muss. Und nichts ist passiert“, sagt Juliane Hoffmann.

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FOTO: RAHMAT GUL/DPA
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FOTO: SHEKIB RAHMANI/AP/DPA Tausende von Menschen wollen nur noch raus aus Afghanista­n. „Wie groß deren Angst vor den Taliban ist, kann nur derjenige nachvollzi­ehen, der bereits Mitte der 90er-Jahre deren Gräueltate­n im Land erlebte“, sagt der Aalener Ehsan Farsi. Vor diesen flüchteten 1997 auch seine Eltern. Damals war er zwei Monate alt.
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FOTO: RAHMAT GUL/DPA Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer versetzen die Bevölkerun­g in Angst und Schrecken. Ehsan Farsi macht sich Sorgen um seine Halbschwes­ter und ihre Familie.
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FOTO: PRIVAT Im Juni wurde der Verwandte von Ehsan Farsi, Azimi Sohrab, ermordet. „Als General stand er auf der Todesliste der Taliban“, erzählt der 24Jährige.

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