Berlins neue Wirtschaftskraft
Lange belächelt, ist die Hauptstadt inzwischen zu einem führenden Standort in Deutschland gewachsen
- Alles beginnt 2008 mit zwei Gründern, die Flip-Flops aus ihrem Wohnzimmer heraus verkaufen. 13 Jahre später wird Zalando, Europas größter Onlinehändler und das wohl bekannteste Unternehmen Berlins, in den Deutschen Aktienindex aufsteigen – ein Zeichen für die neue Wirtschaftskraft der Hauptstadt, die lange als Hort der Hipster und Digitalnerds galt. Doch der Boom hat Nebenwirkungen.
Neben Zalando wird, so sieht es derzeit aus, auch der Kochboxenversender Hellofresh in den Dax kommen, wenn die Deutsche Börse den Index neu zusammensetzt. Das erhöht die Zahl der Berliner Firmen unter den größten börsennotierten deutschen Konzernen auf fünf. Nur aus München sind mehr Unternehmen im Börsenoberhaus notiert. Siemens zählt dabei mit seinem Doppelsitz für beide Städte.
„Dass die großen, im Dax notierten Konzerne nicht mehr vor allem ihre Zukunftsabteilungen an die Spree verlegen, sondern Berlin inzwischen die zweitgrößte Dax-Stadt ist, ist kein Versehen“, sagt Stefan Franzke, oberster Wirtschaftsförderer der Stadt. „Es zeigt, dass die einzigartige Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft erfolgreich ist.“Und er sieht eine gewisse Tradition: Berlin habe sich immer wieder neu erfunden.
Lange wurde die Stadt eher belächelt: Groß, laut, schräg, mäßig regiert, viel Kultur und ein paar Freaks. Berlin galt nach einem Spruch des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) als arm, aber sexy, was vor allem die großen Möglichkeiten zeigen sollte. Der neben Siemens einzige Berliner DaxKonzern Schering wurde 2006 vom Konkurrenten Bayer geschluckt. Das war es. Die große Gründerszene galt als vielversprechend, doch so richtig startete die Stadt nicht durch. Das hat sich deutlich geändert.
Denn die bald fünf Berliner DaxKonzerne sind noch nicht alles. Für das erste Halbjahr 2021 haben die Wirtschaftsförderer von Berlin Partner gerade elf Firmen in Berlin ermittelt, die zu den sogenannten Unicorns zählen, Start-ups, die nach den letzten Finanzierungsrunden mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Allein sieben sind in dem Zeitraum neu dazugekommen – alles wenige Jahre alte Technologieunternehmen.
Dazu gehören die Onlinebanken N26 und Solarisbank sowie der Onlinebörsenmakler Trade Republic. Mit dabei sind auch Getyourguide, eine Onlinebuchungsplattform für Führungen und Ausflüge, sowie der Versicherungsmakler
Wefox und Gorillas, eine Firma, die verspricht, Bestellungen per Fahrradkurier binnen zehn Minuten zu liefern. Auch die Logistikspezialisten Forto und Sennder, die sich an Geschäftskunden wenden, gehören dazu.
Die Start-up-Szene zieht inzwischen auch in großem Maße Geld an. Allenfalls Bayern mit der Region München kann da noch mithalten. Investoren steckten im ersten Halbjahr insgesamt 4,1 Milliarden Euro in 263 Berliner Start-up-Firmen, mehr als dreimal so viel wie ein Jahr zuvor, wie die Beratungsfirma EY in ihrem Start-up-Barometer berechnet hat. Die Summe entspricht 54 Prozent allen Geldes, das in Deutschland in neue Firmen floss. Platz zwei bei den Investitionen ging an Bayern mit 2,5 Milliarden Euro, ebenfalls mehr als dreimal so viel wie ein Jahr zuvor. Start-ups in Baden-Württemberg erhielten immerhin noch 307 Millionen Euro, in allen anderen Bundesländern
sah es im ersten Halbjahr eher dünn aus mit Geld für Gründer.
Auch sonst gab es gute Nachrichten: Berlin hat erstmals London als attraktivsten Standort für Gründer überholt, wie die jährliche Startup Heatmap Meinungsumfrage ergab. Die Berliner kamen auf einen Gesamtwert von 39 Prozent, London auf 36 Prozent. Auf den Plätzen drei und vier folgen Amsterdam und Barcelona (je 17), München schaffte Rang fünf (10). Untersucht werden unter anderem das Preis-Leistungsverhältnis, wie verfügbar Entwickler sind und wie vernetzt die Branche.
Einen deutlichen Schub bekommt Berlin auch noch durch einen der schillernsten Unternehmer der Welt: Elon Musk. Der Chef des US-E-Autobauers Tesla wollte die europäische Fabrik unbedingt in der deutschen Hauptstadt bauen. Weil geeignete Flächen nur außerhalb der Stadtgrenze zu finden waren, kann sich Brandenburg jetzt über die wahrscheinlich spektakulärste Ansiedlung Europas in diesem Jahrzehnt freuen. 14 000, später 40 000, Arbeitsplätze sollen entstehen.
Dank des Booms bei den Unternehmen entstehen in Berlin jedes Jahr Tausende neue Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote betrug im Juli 9,9 Prozent, mehr als der Bundesschnitt von 5,6 Prozent, aber deutlich weniger als die 19,3 Prozent vom November 2003, als Wowereit das „arm, aber sexy“prägte. Es wird heute auch mehr verdient. Berlins Bevölkerung wächst.
Und das bereitet Probleme. Denn bezahlbarer Wohnraum ist immer schwerer zu bekommen. Berlin hinkt beim Neubau hinter den eigenen Plänen her. Bei Wohnungsbesichtigungen stehen schon mal 80 Personen vor der Tür, die Mieten steigen. Die Wohnungspreise auch. Gleichzeitig gibt es mehr Menschen, die sich auch etwas leisten können. Die Verwaltung wirkt überfordert, Meldetermine in den Bürgerämtern etwa sind kaum zu bekommen. Im Netz werden Tipps getauscht, wie man das Buchungssystem umgehen kann.
Die Gründerszene scheint damit umgehen zu können, wie überhaupt die gesamte Wirtschaft. Seit 2014 wuchs das Bruttoinlandsprodukt Berlins jedes Jahr deutlich stärker als das deutsche. Auch die Corona-Krise hat die Stadt bisher ganz gut weggesteckt. Berlins Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) rechnet für 2021 mit einem Wachstum von 3,2 Prozent. Die Bundesregierung geht für Deutschland von 3,5 Prozent aus.