Erst Opfer, dann Täter
Der Neu-Ulmer Khaled El-Masri wurde von der CIA entführt – Inzwischen hat er eine neue Heimat gefunden – Er sehnt sich noch immer nach Gerechtigkeit
- Auch nach mehr als 18 Jahren kann der Deutsche Khaled El-Masri noch sehr genau über jene Zeit berichten, die bis heute wie ein Joch über ihm zu liegen scheint. Wie er einst an der mazedonischen Grenze erst verhaftet und dann wochenlang in einem Hotel verhört wird. Wie er nach Afghanistan verschleppt und in ein dreckiges Loch gesteckt wird. Wie er unter Todesangst und Misshandlung litt und dann doch auf wundersame Weise wieder nach Deutschland gelangt. All dies schildert der 58Jährige mit ruhiger Stimme, bis er an jene Stelle kommt, als er nach den 149 alptraumhaften Tagen in der Ferne die Heimat erreicht. „Dann war ich wieder in Neu-Ulm“, sagt El-Masri. Plötzlich bricht seine Erzählung ab und der zuvor noch so sicher wirkende Mann mit den ergrauten Haaren verschluckt die Worte, hält inne und weint. Dann steht er auf und verlässt den Raum.
Diese Szene stammt aus der Dokumentation „Der Fall El-Masri“von dem Biberacher Filmemacher Stefan Eberlein. Ein spannendes, manchmal berührendes Zeugnis über einen Mann, dessen Schicksal durch eine tragische Verwechslung seinen Lauf nahm. Der erst zum Symbol wurde für die Auswüchse des amerikanischen Krieges gegen den Terror. Der in der Folge die Kontrolle über sein Leben verlor, in Deutschland zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und dadurch bis heute in der Öffentlichkeit Glaubwürdigkeit und Akzeptanz einbüßt. „El-Masri ist kein Sympathieträger“, bestätigt Stefan Eberlein im Gespräch. „Eher ein Michael Kohlhaas, der recht haben will.“Heißt es doch in Kleists Novelle: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“
Ende 2003 lebt der Deutsch-Libanese mit
Frau und damals vier Kindern nahe Neu-Ulm.
In der kleinen Wohnung kommt es zum Streit. El-Masri, so erzählt er es, braucht eine Auszeit und steigt am 31. Dezember in einen Reisebus nach Skopje in Mazedonien. An der Grenze zu dem kleinen Land holen die Zöllner ihn jedoch aus dem Bus, konfiszieren seinen deutschen Pass und stellen Fragen: „Sind sie streng gläubiger Muslim?“, „Wie oft beten Sie am Tag?“, „Haben Sie Verbindungen zu Al-Qaida?“Am Abend wird er nach Skopje in ein Hotel gebracht und dort wochenlang festgehalten.
„Sie boten mir einen Deal an“, wird er später erzählen. „Ich sollte unterschreiben, dass ich bei AlQaida bin, dann wollten sie mich gehen lassen.“
El-Masri lehnt ab. Und wird nach Afghanistan verschleppt, wo er sich in einem verdreckten Kellerverlies wiederfindet. Ein Vernehmer eröffnet ihm zu Beginn: „Hier gibt es keine Gesetze, und niemand weiß, wo du bist.“
„Extraordinary Rendition Flights“(Verschleppungsflüge) wird das System genannt, bei dem der amerikanische Geheimdienst CIA nach dem 11. September terrorverdächtige Personen von einem Staat in den anderen brachte, um sie ohne juristische Grundlage verhören zu können. Das „Outsourcing von Folter“, wie sich Kritiker empören, haben CIA-Beamte und Opfer gleichermaßen bestätigt. Aber warum ausgerechnet El-Masri? Warum ein deutscher Staatsbürger?
Neu-Ulm entwickelt sich damals zum Anziehungspunkt der internationalen Islamistenszene, das dortige Multikulturhaus, das später verboten und geschlossen wird, gilt als Drehscheibe führender Terroristen wie dem Ägypter Yehia Yousif. Auch Mohammed Atta, einer der Todespiloten vom 11. September, soll dort gewesen sein. Und nicht zuletzt Reda Seyam, ein mutmaßlicher Hintermann des Sprengstoffattentats von Bali mit 200 Toten und späterer Bildungsminister des „Islamischen Staates“(IS). El-Masri und Reda Seyam lernen sich in Neu-Ulm kennen. Sie gehen öfter zusammen in der Metro einkaufen, es gibt ein gemeinsames Essen mit der Familie. El-Masri weiß damals, was man sich über Seyams extremistischen Hintergrund erzählt, denkt nach eigenen Angaben jedoch: „Wenn Reda ein Problem mit der Justiz hätte, dann würde er doch nicht frei herumlaufen.“
El-Masri beharrt bis heute darauf, nie mit terroristischen Aktivitäten in Berührung gekommen zu sein. Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass dem doch so war. Zweifelsfrei fest steht dagegen, dass er zu Unrecht verschleppt wurde.
Diese Erkenntnis kommt den amerikanischen Vernehmern in Kabul aber nur langsam. Der Gefangene verliert in seinem Verlies die Nerven, schreit, so berichtet er: „Ihr seid die wahren Terroristen, seht, wie ihr mit uns umgeht!“Und tritt in seiner Verzweiflung in den Hungerstreik. In der Zwischenzeit stellt sich der Pass von El-Masri jedoch als echt heraus – die CIA war offenbar hinter einem anderen Mann her. Irgendwann taucht plötzlich ein Deutscher, der sich als
„Sam“vorstellt, im Gefängnis auf und sagt: „Die Amerikaner wollen nicht zugeben, dass du bei ihnen warst. Der Heimweg wird deshalb etwas komplizierter.“
Am Flughafen erhält El-Masri seinen Ausweis zurück und wird mit verbundenen Augen ausgeflogen. Nach der Landung fahren ihn die Begleiter über unwegsames Gelände und setzen ihn an einem Waldweg aus. Diesem folgt er, immer in der Angst von hinten erschossen zu werden. Und stößt nach kurzer Zeit auf albanische Grenzsoldaten. Von der Hauptstadt Tirana wird er schließlich nach Frankfurt geflogen und gelangt von dort nach Neu-Ulm. Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschließt, findet er sie leer vor. Frau und Kinder hatten über Monate nichts von ihm gehört und sind in ihrer Not in den Libanon gezogen. Womöglich kamen dem Familienvater schon damals die Tränen, die ihn noch heute einholen.
An seiner Geschichte gibt es kaum Zweifel. Die Geschehnisse in Mazedonien und Albanien wurden überprüft und, etwa durch Haarproben, belegt, seine Angaben über Afghanistan decken sich mit denen anderer Entführungsopfer. Auch der Münchner Staatsanwalt Martin Hofmann sagte: „Er macht uns wohl nichts vor“, dafür sei die Erzählung zu schlüssig und detailliert. Tatsächlich veröffentlicht der US-Senat 2014 einen Folterbericht, in dem es auf Seite 129 heißt: „Die Haft von El-Masri war nicht gerechtfertigt.“Zwei Jahre später wird dies durch ein CIA-Dokument bestätigt, in dem es ebenfalls heißt: „The rendition was unjustified.“Die Entführung war ein Irrtum. Zu diesem Zeitpunkt haben die Umstände das Entführungsopfer aber schon lange zu einem anderen Menschen gemacht. Dessen Leben in Trümmern liegt.
Als El-Masri 2007 im Großhandelsmarkt Metro in Neu-Ulm wie im Wahn ein Feuer legt, wird der Filmemacher Stefan Eberlein auf ihn aufmerksam. „Mir kam das wie ein Hilferuf vor, von einem verzweifelten Menschen, der ein Zeichen setzen will“, sagt Eberlein. El-Masri willigt in dessen Filmprojekt ein, verliert jedoch zunehmend die Kontrolle. Er fühlt sich vom Geheimdienst verfolgt, bedroht, von Behörden provoziert und nicht zuletzt vom Staat im Stich gelassen. Zwar macht die „New York Times“seine Geschichte weltweit bekannt, der Supreme Court, das oberste US-Gericht, verweigert jedoch eine Strafverfolgung. Die Sicherheitsinteressen des Landes gehen vor.
Ebenso lehnt es die damalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) ab, von den USA die Auslieferung von 13 CIA-Mitarbeitern einzufordern, die an der Verschleppung El-Masris beteiligt gewesen sein sollen. Das gute Verhältnis zu Amerika hat Vorrang vor den Interessen eines einzelnen deutschen Staatsbürgers. Und der damalige Innenminister Otto Schily
(SPD) gibt zwar zu, von der Entführung später erfahren zu haben, in einem Untersuchungsausschuss schweigt er aber zu allen anderen Fragen. So gibt es bis heute keine Antwort darauf, ob die Bundesregierung von der Verschleppung durch die CIA wusste. Und ob der Bundesnachrichtendienst möglicherweise sogar in das Kidnapping eingebunden war.
„Mir tut dieser Mandant sehr leid“, sagt der Ulmer Rechtsanwalt Manfred Gnjdiic, der lange ElMasris Verteidiger war. „Er hat sehr viel von seinem Leben opfern müssen und hat nichts dafür bekommen“, so Gnjdiic zur „Schwäbischen Zeitung“. Denn bis heute haben sich weder die USA noch Deutschland bei ihm entschuldigt oder ihn angemessen entschädigt. „Daran ist er ein Stück weit zerbrochen.“
El-Masris seelische Lage spitzt sich 2009 weiter zu, er fühlt sich in seiner Würde verletzt und verprügelt den Neu-Ulmer Oberbürgermeister
Gerold Noerenberg in dessen Büro, die genauen Motive bleiben unklar. Nur so viel steht fest: Der Mann ist am Ende. Zwar bescheinigen ihm psychiatrische Gutachten, dass er die Straftaten ohne die traumatischen Erlebnisse nicht begangen hätte. Trotzdem muss er in Haft, wo er insgesamt fünf Jahre bleibt. Die Boulevardpresse hatte schon vorher getitelt: „Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren?“, El-Masri sei „ein durchgeknallter Schläger, Querulant und Brandstifter. Auch ein Lügner?“Aus dem Opfer war endgültig ein Täter geworden.
„Er hat sich dann komplett abgeschottet“, sagt Stefan Eberlein, „er ist auf den Kriegspfad gegangen und hat alle Kontakte abgebrochen.“Viele Jahre später macht sich der Filmemacher trotzdem auf die Suche nach El-Masri. Und entdeckt ihn nach Monaten der Recherche in Graz. „Das war unheimlich ergreifend“, erzählt Eberlein, „ich traf einen völlig veränderten Menschen. Er hat von innen geleuchtet und eine Zuversicht und Wärme ausgestrahlt, die ich vorher noch nie an ihm erlebt hatte.“Eberlein glaubt, dass ihn nach anfänglichen Konflikten mit den Wärtern die Zeit im Gefängnis hat zur Ruhe kommen lassen. Den Verfolgungswahn, den großen Stress, der ständig auf ihm lastete, konnte er offenbar erst dort loslassen. Nur eines fehle ihm noch immer: „Er hat bis heute keine Entschuldigung bekommen, von der Bundesregierung, vom deutschen Staat. Das ist sein schwarzes Loch.“Doch wie tief ist dieses Loch?
Die „Schwäbische Zeitung“erreicht ElMasri am Telefon in seiner neuen Heimat Graz, wo er mit seiner Frau und den Kindern lebt. Und bisweilen von der Vergangenheit eingeholt wird. „Das kommt mir immer wieder in den Kopf“, sagt er, „das belastet mich noch, das tut weh.“Auch seiner Frau gehe es nach all den Sorgen nicht gut. „Und die Kinder haben im Laufe der Jahre viel in der Schule verpasst.“Doch das Positive überwiegt heute. „Es geht mir gut“, erklärt der 58-Jährige, „die Familie ist wieder zusammen und ich habe Arbeit.“Nachdem es zunächst mit einem arabischen Lebensmittelgeschäft nicht klappen wollte, arbeitet er jetzt als Fahrer für eine Großbäckerei, eine solide Stelle mit sicherem Einkommen. „Das ist für mich eine große Erleichterung“, sagt El-Masri und wirkt dabei tatsächlich ruhig und dankbar. Doch was ist nun mit der fehlenden Entschuldigung von der Bundesregierung, mit seinem Kampf um die Gerechtigkeit? „Damit werde ich nie aufhören. Egal, was geschieht.“Immerhin, wie ein Michael Kohlhaas klingt er bei diesen Worten nicht, die Welt muss also nicht zugrunde gehen.
„Er hat sehr viel von seinem Leben opfern müssen und hat nichts dafür bekommen.“
Manfred Gnjdiic, Anwalt von Khaled El-Masri