Der Kniff mit der Tonne
Kakadus lernen von Artgenossen, den Deckel von Müllbehältern zu öffnen – Die schlauen Vögel begründen damit neue Traditionen
In Mülltonnen●verbergen sich zumindest in den Augen eines hungrigen Gelbhaubenkakadus oft echte Leckerbissen in Form von angebissenen Sandwiches oder Obstresten. Nur liegt diese energiereiche Kost hinter einer dicken Plastikwand, durch die auch der kräftigste grauschwarze Papageienschnabel nicht durchkommt. Also setzen die cleveren Kakadus ihre Geschicklichkeit ein, heben einfach den Deckel der Mülltonne hoch und kommen so doch noch an ihr Futter. Wie man dabei am besten vorgeht, lernen die Vögel von ihren Artgenossen, berichten Barbara Klump und Lucy Aplin vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell gemeinsam mit einem vierköpfigen Team in der Zeitschrift „Science“.
Solche Traditionen sind bei Schimpansen im Regenwald und bei Orcas in den Weltmeeren schon lange bekannt: Wie man mit einem langen Stock Termiten aus ihrem Bau angelt, lernen die Menschenaffen genauso von anderen Tieren in ihrer Gruppe wie die Wale von ihren Artgenossen erfahren, wie sie am geschicktesten gefährliche Haie und Stachelrochen erbeuten oder einen Heringsschwarm mit Luftblasen einkesseln. Auch bei Vogelgruppen wie den Raben und den Papageien haben Verhaltensforscher längst clevere Strategien bis hin zur Verwendung einfacher Werkzeuge beobachtet, mit denen die Tiere ihren Hunger stillen. Ob diese Verhaltensweisen aber im Erbgut stecken oder ob irgendwann einmal ein Vogel den Kniff herausbekommt, mit dem er an einen Leckerbissen kommt und seine Artgenossen diesen Trick dann von ihm abkupfern und sich so mit der Zeit eine Tradition entwickelt, war bisher unbekannt.
Dass sie besonders clever sind, beweisen die „Bergpapageien“genannten Keas in Neuseeland immer wieder: Im kleinen Touristenort Mount Cook Village beobachteten Gyula Gajdon und seine Kollegen von der Wiener Universität, wie Keas auf der Suche nach Nahrung ähnlich wie die Kakadus in Australien den Deckel von Mülltonnen öffneten. Fünf der Vögel wurden bei dieser Übung ertappt, alle waren männlich. Da Keas recht gesellige Tiere sind, bedienten sich aus diesen Abfallbehältern gleich 17 weitere Artgenossen, die das Ganze vorher nur beobachtet hatten, ohne selbst den Schnabel oder eine Kralle krummzumachen. Ob die Bergpapageien das für einen Vogel gar nicht so einfache Öffnen der Mülltonnen-Deckel vielleicht von einem geschickten Erfinder in ihrer Gruppe abgeschaut hatten, konnten die Wiener Forscher allerdings nicht sagen.
Ein solches „soziales Lernen“aber hatten Alice Auersperg von der Universität Wien und ihr fünfköpfiges Team bereits bei den auf den Tanimbar-Inseln Indonesiens lebenden Goffin-Kakadus beobachtet. „Ein Männchen kam auf die Idee, sich ein Stöckchen zu basteln, um mit diesem Werkzeug Cashew-Nüsse durch ein Maschendraht-Gitter zu angeln“, erklärt die an diesen Studien beteiligte Auguste von Bayern vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen. „In einem weiteren Experiment haben drei andere Goffin-Kakadus diese Methode dann vom Erfinder übernommen.“Allerdings waren das Labor-Experimente. Ob Kakadus auch in natürlicher Umgebung soziales Lernen beherrschen, haben jetzt Lucy Aplin und ihr Team unter die Lupe genommen.
Ausgangspunkt war ein Video von Richard Major vom Australian Museum in Sydney, auf dem ein Gelbhaubenkakadu eine Mülltonne öffnete. Mit seinem Schnabel und einem Fuß hob das Tier den schweren Deckel ein wenig an, hielt ihn locker fest und lief dann auf dem Rand der Tonne nach hinten. Dabei öffnete der Deckel sich immer weiter, bis der clevere Papagei bequem an den Inhalt kam. „Der Kakadu hatte sich mit dieser raffinierten Methode eine für ihn völlig neue Nahrungsquelle erschlossen“, erinnert sich Barbara Klump an ihre erste Reaktion auf das Video. „Diese Innovation wollten wir genauer untersuchen.“
2018 begann das Team mit einer Online-Umfrage in der Region um die Metropole Sydney und der 85 Kilometer südlich liegenden Großstadt Wollongong. In zwei Jahren gingen 1396 Berichte aus 478 Bezirken ein, in denen 338-mal das Öffnen von Mülltonnen beobachtet worden waren.
Offensichtlich haben die Kakadus auch längst mitbekommen, dass Speisereste vor allem in den Restmülltonnen landen, die in Australien immer einen roten Deckel haben. Die Vögel hatten also gute Gründe, sich in 88,8 Prozent aller Versuche
auf diese Behälter mit der roten Kappe zu konzentrieren. Da in 93,3 Prozent aller erfolgreichen Versuche andere Kakadus dabei waren, gab es für diese Innovation in der PapageienSociety auch jede Menge Beobachter und damit gute Voraussetzungen, von den Erfahrungen der Pioniere zu lernen.
Diese Gelegenheit ließen die Tiere sich nicht entgehen: Während vor 2018 gerade einmal in drei Bezirken Kakadus Mülltonnen öffneten, untersuchten die cleveren Papageien Ende 2019 bereits in 44 Bezirken den Abfall auf Speisereste. Und da Gelbhaubenkakadus ziemlich heimattreu sind, verbreitete sich die neue Nahrungsquelle in den näheren Bezirken viel schneller als in den weiter entfernten.
Dabei erinnert ein weiterer Zusammenhang verblüffend an Traditionen bei uns Menschen, die zwar einerseits gepflegt werden, andererseits aber auch gerne ein wenig verändert werden. Halten in einem Gebiet die Kakadus den Deckel nur mit dem Schnabel oder auch nur mit einem Fuß, nutzen sie anderswo beide Körperteile gleichzeitig. Und dreht ein Kakadu den Kopf um 180 Grad, um den Deckel anzuhaben, schafft ein anderer das gleiche Kunststück, ohne den Kopf zu drehen. Je weiter entfernt von den ersten drei Bezirken die Papageien Mülltonnen öffnen, umso deutlicher unterscheiden sich ihre Methoden von denen der Pioniere. „Auch das zeigt klar, dass die Kakadus voneinander lernen“, erklärt Barbara Klump.
Dabei verlassen sich die Vögel aber nicht nur auf Traditionen, sondern erfinden ihren Nahrungserwerb auch einmal neu. So geschehen weit im Norden von Sydney als Ende 2018 ein Papagei zwar nicht das Rad, aber immerhin das Öffnen von Mülltonnen mit einer neuen Methode anpackte. Als das Team im Stanwell Park im Verwaltungsbezirk Wollongong einzelne Stellen im Gefieder von 486 Kakadus mit Farbklecksen markierte, um die einzelnen Tiere voneinander unterscheiden zu können, kamen sie auch den wichtigsten Erfindern in der Papageien-Gesellschaft auf die Schliche: 89 Prozent der erfolgreichen Mülltonnen-Öffner waren männlich. Und: Wer in der Kakadu-Hierarchie höher steht, probiert es öfter, den Deckel in die Höhe zu stemmen und ist in dieser Disziplin auch erfolgreicher.
„Das ist eine äußerst spannende Studie“, sagt Auguste von Bayern, die an dieser Untersuchung nicht beteiligt war. „Die Kolleginnen konnten genau verfolgen, wie diese hochkomplexe Verhaltensweise durch Beobachtung gelernt wird und sich ausbreitet.“Und genau wie bei den Goffinkakadus und bei den KeaBergpapageien scheinen auch bei den Gelbhauben-Kakadus vor allem die Männchen solche Traditionen zu entwickeln. „Diese sind ein wenig kräftiger und können so den schweren Deckel der Mülltonne vermutlich leichter öffnen“, erklärt Auguste von Bayern diesen Unterschied zwischen den Kakadu-Geschlechtern.
Der Kakadu hatte sich mit dieser raffinierten Methode eine völlig neue Nahrungsquelle erschlossen.
Barbara Klump vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell