Die vergessene Tote
Eine Seniorin liegt leblos in ihrer Wohnung, neben ihr der Totenschein – Es vergehen 24 Tage, erst dann rücken die Bestatter an – Wie konnte das passieren? Und was sagt das über unser Zusammenleben?
- Es soll hier, in dieser unscheinbaren Wohnanlage mit den 36 Klingelschildern am Rande von Eichstätt, einmal ein eigenes Zimmer des Bayerischen Roten Kreuzes gegeben haben. So erzählt das zumindest die Anwohnerin aus dem dritten Stock in ihrer Wohnung mit den hohen Decken, den Polstermöbeln und den Räucherstäbchen. Sie müsste es wissen, schließlich wohnt sie schon seit 17 Jahren hier. Teile des Hauses jedenfalls seien einmal für betreutes Wohnen reserviert gewesen. Eine Schwester war immer da. Niemand sollte hier allein sein im Alter.
Einige Jahre später umrankt dieses Wohnhaus eine tragische Geschichte, bei der man vergeblich nach Fürsorge sucht. Eine Geschichte, die getränkt ist von Einsamkeit, von der Frage des Alterns, des Alleinsterbens, des Vergessenwerdens. Eine Geschichte, von der jeder, dem man auf ihrem Pfad begegnet, sagt: So etwas darf, so etwas kann es eigentlich gar nicht geben.
Der späte Morgen des 15. Juni. Wie jeden Tag macht sich eine ambulante Pflegerin der Caritas auf zu ihrer 74-jährigen Patientin. Sie ist, so werden es Nachbarn später erzählen, nicht mehr ganz so gut auf den Beinen, aber trotzdem aktiv, fährt mit ihrem Wägelchen den Müll nach draußen, geht zum Einkaufen, manchmal sogar hinunter in die Altstadt. Weil die Klingel an diesem Tag einfach verhallt, öffnet die Pflegekraft die Wohnung mit ihrem eigenen Schlüssel. Auf dem Bett findet sie die alte Dame: tot.
Über das Telefon einer Nachbarin kontaktiert sie die zuständige Hausärztin. Eine halbe Stunde später stehen die beiden Frauen in der Wohnung, die Medizinerin stellt den Totenschein aus – ein natürliches Ableben – und legt ihn neben den Leichnam. Die Pflegerin informiert noch den gesetzlich berufenen Betreuer der Seniorin, so beteuert die Caritas später. Dann verlassen beide die Wohnung. Und es vergehen 24 lange, heiße Sommertage.
Nach etwas über einer Woche schwirren die ersten dicken Fliegen durch den Laubengang vor der Wohnung. Ein beißender Gestank wabert durch den Türschlitz und die Entlüftung. Er zieht auch in die Küche des Nachbarn schräg darüber. „Ich dachte erst, das sei ein Messi, der hier irgendwo im Haus wohnt", erinnert er sich. Die Polizei ruft er nicht. Das übernimmt Tage später, am 9. Juni, einem Freitag, ein anderer Anwohner.
Als die Einsatzkräfte am späten Nachmittag eintreffen, erkennen sie die Anzeichen sofort: die Fliegen, der Geruch. Über die Vermieterin verschaffen sie sich Zutritt zur Wohnung und finden den Körper der Frau. Neben ihr: der dreieinhalb Wochen alte Totenschein.
Dass verweste Leichen aus Wohnungen gebracht werden müssen, ist an sich keine Seltenheit. Allein im Großraum München kämen solche Fälle bis zu 200-mal im Jahr vor, sagt Manfred Riedel, Geschäftsführer des bayernweit tätigen Bestattungsunternehmens Denk. Es gibt Menschen, die so sehr vereinsamen, dass niemandem auffällt, wenn sie nicht mehr da sind. Aber eine Tote, die gefunden und dann einfach liegen gelassen wird, für die sich niemand zuständig fühlt?
Auch Jürgen Hauke muss die Augenbrauen ungläubig zusammenkneifen, wenn er diesen Fall rekapituliert. Der stellvertretende Polizeidienststellenleiter in Eichstätt empfängt in seinem Büro im ersten Stock. Ein altes Gebäude, kleiner als das 36-Parteien-Haus, es geht hier auch viel beschaulicher zu als im Münchner Revier, wo Hauke in den frühen 90ern seine Beamtenkarriere begonnen hatte. So etwas schon einmal erlebt? „Na“, sagt er und schüttelt den Kopf.
Die Polizei hat direkt nach dem Leichenfund die Ermittlungen aufgenommen und die gesammelten Ergebnisse an das Landratsamt geschickt. Die Behörde ist zuständig für Ordnungswidrigkeiten, in diesem Fall einen eventuellen Verstoß gegen das bayerische Bestattungsgesetz. Das sieht für die Beisetzung zunächst einmal in festgelegter Reihenfolge die Angehörigen in der Pflicht: Ehemann oder -frau, Lebenspartner oder -partnerin, Kinder, Geschwister und so weiter.
„In diesem Fall war das etwas kompliziert“, sagt Hauke. Der Ehemann der Frau war bereits verstorben. Es gibt sechs Kinder. „Ich weiß, dass ein Teil von ihnen informiert worden ist. Aber die kommen mit der Lebenssituation selbst nicht so gut zurecht.“Sie hätten, schildert ein mit den Familienverhältnissen Betrauter, zum Teil selbst einen Betreuer oder leben in Heimen.
Fehlen Angehörige, die für eine Beerdigung aufkommen können, ist im Normalfall die Kommune zuständig. Das Standesamt wird dann vom Bestattungsinstitut informiert. Nur wurde das eben nie gerufen. An irgendeiner Stelle muss die Kommunikationskette gerissen sein.
Ein paar Wochen nach dem Auffinden der Leiche. Das Wohnhaus ist ein Komplex, wie es ihn in Deutschland zu Zehntausenden gibt.
Ein paar Pärchen, Studierende, viele Alleinstehende. Wer spätnachmittags klingelt, bekommt kaum eine Antwort oder wird vertröstet: die Arbeit, der Einkauf, die Zeit.
„Wenn bei uns im dritten Stock das Rollo mal zwei Tage zu ist oder die Werbezeitungen aus dem Briefkasten fallen, kommt jemand und schaut nach“, erzählt die Nachbarin mit den hohen Decken. Von ihrem Balkon aus kann sie hinunter in das Büro eines alten Herrn schauen. Sie hat seinen Schlüssel. „Jeden Tag schau ich runter zum Fenster. Wenn Licht brennt, weiß ich: Alles okay.“
Die Verstorbene scheint ein solches Netz der Nachbarschaftshilfe
nicht gehabt zu haben. Zurückgezogen habe sie gelebt, sagt die Frau aus dem dritten Stock, kaum Kontakt zu anderen gehabt. Ein anderer Nachbar kann sich nicht einmal an ihren Namen erinnern, der noch am Klingelschild des Haupteingangs steht. An der Wohnungstür ist das Verschlusssiegel der Polizei eingerissen. Das Apartment musste grundsaniert werden.
Jene Frau, die kaum einer wahrnahm, wenn sie mit ihrem Rollator durch die hellen Gänge schlich, sie ist jetzt Gesprächsthema Nummer 1 im Haus. Da stimmt doch etwas nicht, sagen sie hier beim Tratsch auf dem Gang. Wie sollen die Fliegen aus der Wohnung kommen, bei den dicken, dichten Türen?
Bei der Polizei ging ein Hinweis ein: ein Mann, der am Tag des ersten Leichenfunds im Juni an der Tür gesichtet wurde. „Es gab mehr Schlüssel als beim Vermieter angemeldet“, sagt Polizist Hauke. Aber wer der Unbekannte war, ob es ihn überhaupt gab, habe man nicht feststellen können.
Die Nachbarn erzählen von einem Lebensgefährten, der jeden Nachmittag zu Besuch kam. Von einem geistig beeinträchtigten Verwandten, der im Haus wohnt und dem die Dame öfter Suppe vorbeibrachte. Irgendwer muss doch drin gewesen sein. Irgendwer muss es doch gewusst haben.
Die Stimmung ist seltsam aufgeheitert, Erzählungen enden zum Teil in schrillem Gelächter. „Wir dachten doch auch, sie ist weg. Weiß der Teufel!“, sagt eine Frau aus dem ersten Stock, jene, die die Pflegerin damals hatte telefonieren lassen.
Wer, wie, was, wann, warum – es sind am Ende nicht mehr als Spekulationen. Nach einem Bericht des Donaukurier soll auch die Vermieterin kurz nach dem Tod der 74-Jährigen Bescheid gewusst haben. Als sie eine Woche später nach dem Rechten sehen wollte, sei ihr das vom Amtsgericht Ingolstadt untersagt worden. Sie solle auf ein entsprechendes Schreiben der Behörden warten.
Die Frage nach der Verantwortung, sie gleicht einem Labyrinth, das nur aus Sackgassen besteht. Findet Marion Neusiedler einen Ausweg? Sie ist Rechtsanwältin für Bestattungsrecht, ein Orchideenfach der Juristerei. Doch auch sie sagt: „Von solch einem Fall habe ich noch nie gehört.“
Sie beschreibt eine rechtliche Zwickmühle: „Wenn die Personensorge übertragen worden ist, dann ist der gesetzliche Betreuer derjenige, der sich um das Weitere zu kümmern hat.“Gleichzeitig gebe es die Regel, dass die Betreuung automatisch mit dem Tod des Betreuten ende. Auch das Landratsamt führt dies als Argument an, wenn man nach der Rolle des Betreuers fragt. Hatte der Mann das Bestattungsrecht womöglich nicht im Kopf? Dachte er, die Familie werde sich schon um den Abtransport der Leiche kümmern?
Was auch immer die Beweggründe waren: Ralf Michal, Vizepräsident des Bundesverbands Deutscher Bestatter, versteht sie einfach nicht. „Der Betreuer der Verstorbenen hätte merken müssen, dass auf jeden Fall was getan werden muss, auch wenn er es nicht bezahlt kriegt, weil seine Betreuung mit dem Tod endet. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit“, sagt er.
Michal kommt aus einer Bestatterfamilie. Gründung des Familienunternehmens 1833, er selbst ist die fünfte Generation, sein 24jähriger Sohn wird ihm nachfolgen – „obwohl ich ihn nicht gezwungen habe“. In 35 Berufsjahren hat er tausende Leichen gesehen, zum Teil auch solche, die entdeckt und dann vergessen wurden, erzählt er. Aber meist von der Polizei.
Er sieht einen zwiegespaltenen Trend. Es gebe immer mehr Menschen, die sich per Bestattungsvorsorge um ihr eigenes Lebensende kümmerten. Doch das Umfeld stumpfe zunehmend ab: „Wenn ich nicht ganz unsensibel bin und durchs Haus laufe, dann rieche ich so etwas. Die wenigsten tun heute noch mehr als ihre Pflicht. Das macht mir wirklich Sorgen.“
Michals Betrieb liegt in der Schweinfurter Fußgängerzone, vor der Tür ein öffentlicher Abfalleimer. Alle vier Wochen brenne der mal, erzählt er. Die meisten würden einfach daran vorbeilaufen. Inzwischen hält der Bestatter Vorträge vor Konfirmationsgruppen und im Religionsunterricht. „Ich versuche, die Schüler zu sensibilisieren: ‚Wenn die Zeitungen sich vor der Tür des Nachbarn stapeln oder dauernd der Fernseher läuft oder es auf einmal anders riecht als sonst, dann bitte ruft lieber einmal zu oft als zu wenig die Polizei. Und geht nicht daran vorbei und sagt: Ist egal.“
Es ist wohl genau diese Irgendwer-wird-sich-schon-kümmernMentalität, die auch in Eichstätt um sich griff. Die Nachbarinnen und Nachbarn, die Fliegen sahen, Verwesung rochen, aber erst Tage später die Polizei riefen. Der Betreuer, der Bescheid wusste, aber nichts unternahm. Der Lebensgefährte und der Verwandte, denen der Tod der Dame hätte auffallen müssen. Jürgen Hauke, der stellvertretende Polizeidienststellenleiter, ist ratlos: „Scheinbar hat jeder sich auf den anderen verlassen. Man meint immer, bei uns in Deutschland ist alles so geregelt. Aber man sieht: Es gibt immer wieder Ausnahmen. Hier ist wirklich alles schiefgelaufen.“
So schief, dass die Behörden am Ende niemanden für den tragischen Fall verantwortlich machen können oder wollen. Das Landratsamt teilt schließlich in der vergangenen Woche mit: Es konnte keine Ordnungswidrigkeit feststellen.
Die Frau, die vergessen wurde, hat nun eine Feuerbestattung erhalten. Die Kosten der Beerdigung übernimmt die Stadt Eichstätt.
„Die wenigsten tun heute noch mehr als ihre Pflicht. Das macht mir wirklich Sorgen.“
Ralf Michal, Verband Deutscher Bestatter