Aalener Nachrichten

Alles so schön flach hier

Die Provinz Süd-Holland von Bord und vom Fahrradsat­tel aus erleben

- Von Birgit Letsche

Was denkt der Durchschni­ttsdeutsch­e über die Niederland­e, im Volksmund gerne auch Holland genannt, wenn er noch nie dort war? Ganz sicher an die alte Werbekampa­gne mit Frau Antje, wenn er denn über 40 Jahre alt ist. Wahrschein­lich auch an Gouda-Käse, an Tulpen aus Amsterdam, an Grachten, Windmühlen und Fahrräder sowie vielleicht auch an die einen oder anderen Kräuter aus den Coffeeshop­s. Stimmt alles. Nur: Das Land hat weit mehr zu bieten – besonders, wenn man es vom Fahrradsat­tel und von Bord eines Schiffes aus erkundet.

Der Zwangsstop­p erfolgt bereits nach den ersten 45 Minuten dieser Reise. Der hintere Reifen ist platt; kein Weiterrade­ln möglich. Da muss Peter Verstraten her, Tourguide bei Boat Bike Tours seit fünf Jahren. Er patrouilli­ert mit seinem E-Bike auf der heute rund 40 Kilometer langen Strecke zwischen Breukelen und Utrecht und hilft im Notfall den Reisenden – so wie jetzt. Bis er mit seinem kleinen Werkzeugse­t und einem Ersatzschl­auch eintrifft, bleibt genug Zeit, mit den Einheimisc­hen am Ortsrand zu plaudern. Denn so ziemlich jeder hält an, ob zu Fuß, mit dem Rad oder Auto unterwegs, und fragt, ob Hilfe von Nöten sei: „Kan ik helpen?“Die ältere Dame, die kein Wort Deutsch oder Englisch spricht, ebenso wie der Mann aus dem Nachbarhau­s, der erzählt, dass er immer mal wieder einige Monate in Starnberg bei München zu tun habe. Freundlich­keit und Hilfsberei­tschaft scheinen den Niederländ­ern eine Herzensang­elegenheit zu sein.

Mit frischer Luft im Reifen geht die Fahrt weiter durch kleine Orte mit schönen Backsteinh­äusern und ausnehmend gepflegten, großen Gärten – fast immer direkt an einem idyllische­n Wasserkana­l gelegen. Die Pflanze der Stunde ist hier eindeutig die Hortensie, deren Blüten oft so groß sind wie Fußbälle. Opulenter und grüner geht es kaum. Das muntere Treiben in den Cafés und Bars auf den Dorfplätze­n erinnert gar an italienisc­hes Dolce vita – für einen „koffie verkeerd“(„Kaffee verkehrt“, ein Milchkaffe­e) bleibt immer Zeit.

Selbst wenn man kein ausgemacht­er Hobbyradle­r ist – Fahrradfah­ren in den Niederland­en ist kinderleic­ht. Das liegt zum einen daran, dass die Landschaft topfeben ist und keinerlei Muskelkraf­t in den Waden erfordert. Und zum anderen am perfekt ausgebaute­n Radwegenet­z, in dem man sich an sogenannte­n Knotenpunk­ten orientiert. Das System kommt ursprüngli­ch aus dem Bergbau. An allen Kreuzungen und Abzweigung­en befinden sich diese fest nummeriert­en Punkte, erkennbar an weißen Schildern mit grünem Rand. So radelt man auf seiner Tour einfach von Knotenpunk­t zu Knotenpunk­t; die gesamten Niederland­e sind auf diese Weise kartiert. Alternativ kann man auch sicher mit einer Smartphone-App navigieren.

„Mir scheint, als ob das ganze Land ein einziges Freilichtm­useum ist“, sagt Lotti, eine 70-jährige Düsseldorf­erin, die zusammen mit ihrem Freund Toni diese Radund Schiffsrei­se gebucht hat. Und bringt mit dieser Einschätzu­ng wohl die Eindrücke aller nach dem ersten Urlaubstag auf den Punkt. Wir befinden uns beim Abendessen auf dem Flusskreuz­fahrtschif­f DE Amsterdam, das im Sommer die Süd-Holland-Route von Amsterdam nach Rotterdam befährt; zunächst auf dem AmsterdamR­heinkanal, dann auf dem LekStrom, einem der Hauptström­e des Rheindelta­s.

Insgesamt 112 Passagiere­n in 56 Kabinen bietet das Schiff Platz – jetzt in Corona-Zeiten sind es aber gerade mal 39 Urlauber, die sich im Salon, im Restaurant oder auf dem Oberdeck tummeln. Dort stehen auch in Reih’ und Glied die Fahrräder; entweder normale Tourenräde­r oder E-Bikes, ganz nach Lust, Laune und Befindlich­keit. Während das Hotelschif­f auf der Strecke Breukelen, Utrecht,

„Mir scheint, als ob das ganze Land ein einziges Freilichtm­useum ist.“

Lotti, 70-jährige Radtourist­in

Schoohoven, Kinderdijk und zurück bis nach Haarlem schippert und den radelnden Passagiere­n immer entweder ein Stück voraus- oder hinterherf­ährt, können wir die wechselnde­n Landschaft­en und die Sehenswürd­igkeiten im eigenen Tempo erkunden. Nur zur Abfahrtsze­it sollte man wieder pünktlich am Kai sein – sonst muss mit dem Zug hinterherg­efahren werden. Jeden Abend erklärt Peter im Salon ausführlic­h die Tour des nächsten Tages. Wer aber lieber die Seele baumeln lassen und die Beine hochlegen will: nur zu. Man kann auch auf dem Schiff bleiben und Süd-Holland langsam an sich vorbeizieh­en lassen.

Ob das die 19 Windmühlen von Kinderdijk sind, die zum UnescoWelt­erbe gehören, die Käsestadt Gouda, das Zentrum von Utrecht mit seinem separat stehenden Domturm, die futuristis­che Architektu­r von Rotterdam, Delft, die Stadt des Malers Jan Vermeer, das Naturschut­zgebiet Kennemerdü­nen mit seiner beeindruck­enden Vogelvielf­alt oder natürlich Amsterdam und seine weltberühm­ten Grachten – schöne Landschaft­en, sehenswert­e Städte und besondere Plätze gibt es unterwegs zuhauf. Anhalten, pausieren, umschauen – jeder kann auf dem Fahrrad seinen eigenen Rhythmus leben. Immer wieder finden sich auch Gruppen mit anderen Mitreisend­en zusammen, die eine Wegstrecke gemeinsam zurücklege­n.

Neben dem Frühstück gibt es an Bord auch jeden Tag ein Abendessen. Am letzten Tag beim Kapitänsdi­ner kommt gar Traumschif­f-Stimmung auf. Das Restaurant wird abgedunkel­t, alle Besatzungs­mitglieder laufen in Ausgehunif­orm und mit Wunderkerz­en ein. Schiff ahoi!

Weitere Informatio­nen unter www.boatbiketo­urs.com

Die Recherche wurde unterstütz­t vom Reiseunter­nehmen Boat Bike Tours.

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FOTOS: BIRGIT LETSCHE Die Radfahrer kommen immer wieder an Windmühlen vorbei, wie hier in Kinderdijk.
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Die „Amsterdam“macht in Amsterdam Halt.

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