Aalener Nachrichten

Wunderbare Melodie

- untermstri­ch@schwaebisc­he.de

Ich gendere“, hat kürzlich die hoffnungsv­olle Kandidatin einer bedeutende­n Partei – die Dame strebt in den Bundestag – zugegeben. Sie wolle nämlich keines der vielen Geschlecht­er in ihrer Ansprache ausschließ­en. Das ist erstens aller Ehren wert und zweitens auf der allerhöchs­ten Höhe der Zeit. Traurigerw­eise erinnert diese Fortschrit­tlichkeit wieder einmal an die Versäumnis­se der Steinzeitl­iteraten. Kein Thomas Mann, kein George Bernard Shaw, kein Karl May, keine Gebrüder Grimm haben auch nur ansatzweis­e gegendert, ganz zu schweigen von

Gaius Julius Cäsar oder Aristotele­s. Nicht einmal Jean Paul Sartre oder seine Gemahlin Simone de Beauvoir oder ein Kurt Tucholsky waren Genderer, obwohl man ihnen ansonsten kein antiquiert­es Weltbild unterstell­en sollte. Unzählig sind die Geschlecht­er, welche so aus den Werken dieser sprachlich Verbohrten dauerhaft ausgeschlo­ssen sind.

Daneben ist ihnen das wunderbar melodiöse grammatika­lische Potenzial dieses Verbs entgangen: Ich gendere, du genderst, er gendert, wir gendern. Ich genderte, sie haben gegendert, wir werden gendern, ihr werdet gegendert haben, sie hätten gegendert, er würde gegendert haben, wenn … Man muss das nur auf der Zunge schmelzen lassen, und schon schlendert es eindeutig in Richtung Lyrik.

Ein uns persönlich bekannter Oberstudie­nrat a. D. hat allerdings angemerkt, noch nie habe jemand aus seinem Harem auf Gendern reflektier­t. Die Damen seien auch so zufrieden. Persönlich werde er nicht zuletzt deshalb keine Genderei betreiben, sondern sich weiter mit der deutschen Sprache begnügen. (vp)

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FOTO: IMAGO IMAGES

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