Rebellischer Künstler
Der Maler Helmut Sturm im Kunstmuseum Ravensburg
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- Der Name Helmut Sturm (1932-2008) sagt der jüngeren Generation heute vermutlich nichts mehr. Dabei hat der Münchner Künstler die Republik in den Sechzigern gehörig aufgemischt. Mit seinen abstrakt-expressiven Bildern trug er in Deutschland maßgeblich zur künstlerischen Aufbruchstimmung bei. Und er war treibende Kraft der Künstlergruppe SPUR, die sich nicht nur mit Malerei, sondern auch mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzte. Ihre geistreich-provokativen Manifeste und Aktionen erregten teilweise große Aufmerksamkeit. Jetzt zeigt das Kunstmuseum Ravensburg unter dem Titel „Aus der Spielzeugkiste der Wirklichkeit“Sturms umfangreiches Werk.
Helmut Sturms Gemälde sind wild, dynamisch und voller Power, manchmal aber auch einfühlsam und poetisch. Er experimentierte mit Farbe, Form und Zeichen, improvisierte mit Materialien, lotete Räumlichkeiten durch Schichtungen aus, verband Gegenständliches und Abstraktes. Gemalt wurde auf allem: Leinwand, Pappe, Papier, Zeitungsschnipsel. Für den Künstler war das Bild ein Spielfeld „mit Farbflecken, darübergelegten Linien, dazwischen geworfenen Versatzstücken und allerlei Gerümpel aus der Spielzeugkiste der Wirklichkeit“.
All diese Facetten können beim Rundgang durch die neue Ausstellung erlebt werden. Die Idee dazu entstand vor rund zwei Jahren gemeinsam mit dem Museum Lothar Fischer in Neumarkt in der Oberpfalz und der Kunsthalle Emden. Alle drei Häuser besitzen in ihren Sammlungen zentrale Werke des Künstlers; im Kunstmuseum stammen sie ja aus der Sammlung Selinka. Mit Unterstützung des Helmut-Sturm-Archivs in München entstand eine vielseitige Wanderausstellung, die nun als letzte Station in Ravensburg zu sehen ist. Wobei jedes Museum seine eigenen Akzente gesetzt hat. Museumschefin Ute Stuffer hat sich für eine Retrospektive entschieden.
In den frühen Bildern aus Sturms Studentenzeit sind noch die Einflüsse der Klassischen Moderne zu erkennen. In „Musik“von 1957 zum Beispiel die Nähe zu Kandinsky. Dann ging er eigene Wege. Bereits im selben Jahr gründete er im konservativen München gemeinsam mit Lothar Fischer, Heimrad Prem und HP Zimmer die Künstlergruppe SPUR (1957–1965). Sie rebellierten gegen eine Gesellschaft, die die nationalsozialistische Vergangenheit unter den Teppich kehren wollte. „Wir sind (…) gegen das gute Gewissen, gegen den fetten Bauch, gegen Harmonie …“, heißt es in einem Manifest von 1958. Sieben SPUR-Hefte mit Texten, Manifesten und Grafiken hat die Gruppe produziert. Es war das offizielle deutsche Organ der Situationistischen Internationale, einer linksorientierten international agierenden Avantgardebewegung. Entsprechend kritisch und provokant war der Ton.
Die Zeitschrift Nr. 6 „SPUR im Exil“hatte sogar strafrechtliche Folgen.
Die Gruppe kam wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften und Gotteslästerung vor Gericht. Der Prozess zog international Aufmerksamkeit
auf sich, da es sich um den ersten Kunstprozess nach dem Zweiten Weltkrieg handelte. Das Kunstmuseum präsentiert sämtliche Hefte im Erdgeschoss nicht wie üblich nur in einer Vitrine, sondern als Tapete an der Wand. Die Nr. 6 ist leicht zu erkennen: Sie ist die einzige farbige Ausgabe. Die schräge Abendmahlszene würde heutzutage unter Karikatur laufen.
Zeitgleich ändert sich Helmut Sturms malerisches Werk: Abstraktion trifft auf Figuration. Ein Jahr lang arbeiteten die vier Künstler teilweise sogar im Kollektiv. Diese Bilder signierte er mit „SPUR und Sturm“, wie in Ravensburg an einem Exponat zu sehen ist. Die Gruppe war für Helmut Sturm „ein Störfaktor“– aber im positiven Sinne. Bei seinen Kollegen galt er als „leidenschaftlicher Dauerdiskutierer“(HP Zimmer) und Provokateur, aber auch als Mittler und Brückenbauer.
Dann wird’s bunt, und er greift auch in seinen Bildern gesellschaftspolitische Themen auf. Mal äußert er sich kritisch zur Wiederbewaffnung in Deutschland, mal spiegelt er die unfriedliche politische Stimmung in dieser Zeit – etwa in „Wahlkampf“(1962). Das Gemälde bezieht sich auf die Bundestagswahl von 1961, als der junge Willi Brandt gegen den alten Konrad Adenauer antrat. Die beiden Wesen wirken trotz aller Farbigkeit bedrohlich, als ob sie sich gleich an die Gurgel gehen.
Als die Gruppe SPUR sich auflöst, engagiert sich Helmut Sturm in anderen Künstlergemeinschaften. So war er etwa Mitbegründer von GEFLECHT (1965–68). Wie der Name andeutet, wurde dort gemeinschaftlich gearbeitet. Ihr Schwerpunkt lag auf der Auseinandersetzung mit der Rolle des Autos und der modernen Technik. Malen als Experiment. Ein anschauliches Beispiel dazu hängt im Obergeschoss.
Auch später als Kunstprofessor in Berlin und München steht der „Dauerdiskutierer“im regen Austausch mit Kollegen und Studierenden, ist international gut vernetzt. Zugleich bewahrt er sich seine Neugier, reagiert in seinen Bildern auf Themen der Zeit. So knüpft er in seinen Berliner Jahren Anfang der 1980er an die Street-Art mit ihren Graffiti an. Seine Schichtungen in kräftigen Farben sind mit grafischen Schriftzügen überzogen. Manchmal greift er auch zur Spraydose. Gegen Ende seines Lebens verbringt der Künstler viel Zeit in seinem Bauernhaus in der Toskana, wo er sich ein geräumiges Atelier eingerichtet hat. Helmut Sturm stirbt 2008 in München – einen Tag vor seinem 76. Geburtstag .
Dauer: bis 1. November, Öffnungszeiten: Di. 14-18 Uhr, Mi.-So. + Fei. 11-18 Uhr, Do. 11-19 Uhr. Der umfassende Katalog ist bei Hirmer erschienen. Weitere Infos unter: kunstmuseum-ravensburg.de
Bis 26. September sind auch in der Galerie Schrade in Schloss
Mochental Bilder, Gouachen und Collagen von Helmut Sturm zu sehen (www.galerie-schrade.de).
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