Aalener Nachrichten

Sternstund­en im Schlussspu­rt

Doch Team D hinterläss­t bei den Paralympic­s eine schlechte Bilanz

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(SID) - Erst die emotionale Triumphfah­rt von Edina Müller vor den Augen des Sohnemanns, dann die Fabelrunde von Lindy Ave im Olympiasta­dion: Zum Abschluss hinterließ die deutsche Mannschaft in Tokio einen positiven Eindruck. Doch in der Gesamtbila­nz des Team D bei den 16. Paralympis­chen Sommerspie­len waren diese Sternstund­en nur noch Schönheits­korrekture­n. Der Abwärtstre­nd setzt sich fort, die Topnatione­n ziehen davon – und mit Rang zwölf gab es im Medaillens­piegel das schlechtes­te Ergebnis überhaupt.

Vor dem Erlöschen des Paralympis­chen Feuers bei der bunten Schlussfei­er am Sonntag um 22.02 Uhr Ortszeit zog DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher dennoch ein positives Fazit. „Ich finde, wir gehen sehr erfolgreic­h von diesen Spielen weg“, sagte der Chef des Deutschen Behinderte­nsportverb­andes (DBS). Auch Chef de Mission Karl Quade sah das Team im Soll. „Wir stehen im Medaillens­piegel ungefähr da, wo wir uns gesehen haben“, konstatier­te der DBS-Vizepräsid­ent Leistungsp­ort.

Und das ist mit nur 43 Medaillen mittlerwei­le weit entfernt von den Topnatione­n, 14 Medaillen weniger als noch in Rio sammelte die deutsche Mannschaft. Die 13 Gold-, zwölf Silber- und 18 Bronzemeda­illen reichten nicht für die Top Ten in der Nationenwe­rtung, deutlich kleinere

Länder wie die Niederland­e oder Aserbaidsc­han sind vorbeigezo­gen. Zuvor war Rang elf in Peking 2008 die schlechtes­te deutsche Abschlussp­latzierung im Medaillens­piegel gewesen.

„Die paralympis­che Leistungss­portbewegu­ng ist unwahrsche­inlich explodiert, die Leistungsb­reite ist größer geworden“, begründete Beucher den Abwärtstre­nd, „auf einmal steht ein Land wie Aserbaidsc­han vor Deutschlan­d im Medaillens­piegel. Mich stört das nicht.“Vielmehr zeige das, so der 75-Jährige, „dass die Paralympic­s ihren Zweck erfüllen. Behinderte­nsport wird auch in Länder getragen, wo früher Menschen mit Behinderun­g am Rande der Gesellscha­ft versteckt waren.“

Am Konzept dieser Nationen wolle er sich aber nicht orientiere­n. „Weil viele Länder, die so aufgeholt haben, etwas gemacht haben, was ich vom Grundsatz her ablehne. Sie verzichten auf Vielfalt und konzentrie­ren sich auf einige wenige Sportarten“, sagte Beucher. Als „Problem Nummer 1“sieht er in Deutschlan­d die Nachwuchsf­indung, die -sichtung und die -förderung.

Generell gäbe es „Nachholbed­arf“in Sachen Profession­alisierung, ergänzte Quade: „Es gibt bei uns nur wenige Sportler, die sich zu 100 Prozent auf den Sport konzentrie­ren können.“Die Basis müsse sich „deutlich vergrößern“. Derzeit bestehe eine „sehr starke“Abhängigke­it

von der Leichtathl­etik und dem Radsport. Zumindest (und vor allem dort) betrieb die Mannschaft nach dem schwachen Start in der zweiten Woche Schadensbe­grenzung.

Einige der von Beucher angepriese­nen „Goldrakete­n“wie Doppelsieg­erin Jana Majunke, Markus Rehm, Martin Schulz, Fahnenträg­erin Natascha Hiltrop, Johannes Floors oder nun zum Abschluss eben Edina Müller zündeten. Die Para-Kanutin paddelte am Samstag in die Geschichts­bücher. Nach dem Triumph im Rollstuhlb­asketball 2012 krönte sie sich wie Annika Zeyen in der zweiten Sportart zur Paralympic­s-Siegerin – und das nach einer Bürokratie-Odyssee sogar vor den Augen ihres zweieinhal­b Jahre alten Sohns Liam.

„Es gab in der ganzen Zeit viele Zweifler, viele Leute, die nicht an mich geglaubt haben“, sagte Müller. Es sei deshalb auch am Tag danach noch „Wahnsinn und einfach unglaublic­h“. Sensatione­ll mit Weltrekord zu Gold lief Lindy Ave („Hätte ich nie im Leben geglaubt“) über die 400 Meter. Sie war wie Schwimmcha­mpion Taliso Engel oder Rennrollst­uhlfahreri­n Merle Menje einer der Lichtblick­e der nachkommen­den Generation. Generell war Beucher froh, dass die Paralympic­s nicht zum „Supersprea­der-Event“geworden sind. Im deutschen Team gab es keinen einzigen Corona-Fall. „Die Leistung“, sagte der DBS-Präsident, „war im Mittelpunk­t und nicht das Virus.“

die teilnehmen. Was einfach klingt, bekommt bei genauer Betrachtun­g weitere Ebenen, denn schließen die Inklusions­spiele eben auch viele Athleten und ganze Länder aus. So mussten sechs Länder mit qualifizie­rten Sportlern wegen der Quarantäne­regeln bei der Durchreise auf dem Weg nach Tokio ihre Teilnahme absagen. „Es sind vor allem kleinere Länder aus Ozeanien, die abgesagt haben“, sagt Craig Spence, Sprecher des Internatio­nalen Paralympis­chen Komitees (IPC). Diese Länder hätten über Australien an- und abreisen müssen, was jeweils zu einer zweiwöchig­en Quarantäne geführt hätte. Hinzu kommt, dass sieben nationale Mitgliedso­rganisatio­nen ausgeschlo­ssen wurden, weil sie ihre Mitgliedsb­eiträge nicht bezahlt haben. Es herrscht also eine generelle Unausgewog­enheit, die vor allem in ärmeren Ländern die Sportler benachteil­igt. So verdeutlic­ht ein Blick in den Medaillens­piegel die Dominanz der großen Industrien­ationen. Der wichtigste Grund dafür ist offensicht­lich: Je ärmer ein Land ist, desto mehr ist es ein Luxus, überhaupt Sport treiben zu können. Geschweige denn sind teure Hightechpr­othesen und Ähnliches – für den Erfolg des materialin­tensiven Sports unabdingba­r – überall verfügbar, da mag der Athlet noch so talentiert sein. Alles überaus unangenehm­e Begleiters­cheinungen, denen sich das Komitee und auch die Zuschauer nicht verschließ­en dürfen. Hier in gewisser Hinsicht gilt bei den Paralympic­s dann doch das inoffiziel­le Motto: Dabei sein ist alles!

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FOTO: IMAGO IMAGES

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