Aalener Nachrichten

Wiedergebu­rt nach der Sturzflut

Das hohenlohis­che Dorf Braunsbach ist vor gut fünf Jahren zum Sinnbild einer Naturkatas­trophe geworden

- Von Uwe Jauß

- Wie aus dem Nichts ist Max Bahmann plötzlich auf dem Braunsbach­er Marktplatz aufgetauch­t, ein Rentner, 67 Jahre alt. Der graubärtig­e Mann erzählt dem Besucher unaufgefor­dert und ohne Punkt und Komma von dem Sonntagabe­nd des 29. Mai 2016, der für die kleine, nördlich von Schwäbisch Hall gelegene hohenlohis­che Gemeinde alles ändern sollte. „Von meinem Schlafzimm­erfenster aus habe ich gesehen, wie das Wasser die gewaltige Geröllund Schuttlawi­ne in den Ort spülte, wie die Autos mitgerisse­n wurden, wie ein Feuerwehra­uto weggespült wurde, mit laufendem Blaulicht an einer Hauswand landete.“

Das waren die rund 45 Minuten der Flut von Braunsbach, einem Unglück, das den historisch­en Ortskern schwer beschädigt­e. Bilder davon gingen um die Welt – unter anderem, weil es der Zufall wollte, dass ein Feriengast auf dem Balkon des Gasthauses Löwen stand und filmte. Material, welches rasch den Weg ins Internet fand. Laut der Erinnerung Einheimisc­her wurde es schon „über YouTube verbreitet, bevor die Katastroph­e vorbei war“.

Das Dorf ist durch die Bilder zu einem Symbol solcher Unglücke geworden. Die jüngste Katastroph­e im rheinländi­schen Ahrtal hat die Erinnerung aufgefrisc­ht. Ebenso warf sich die Frage auf, wie Braunsbach fünf Jahre später aussieht. Überrasche­nd gut, wie der erster Überblick ergibt – etwa am Marktplatz. Wo sich der angeschwem­mte Dreck, das Geröll, die Baumstämme und kaputten Autos viele Meter hoch auftürmten, herrscht nun Beschaulic­hkeit.

Vor dem damals schwer getroffene­n Wirtshaus „Löwen“sitzen Gäste im Biergarten. Fahrradtou­risten, die bei Braunsbach durchs reizvolle Kochertal rollen, machen am Marktplatz Pause. Praktisch alle gehen noch ein paar Schritte weiter zu einer hölzernen Hütte: dem Infopunkt „Sturzflut“, einer Erinnerung­sstätte an die Katastroph­e.

Texte in der Hütte beschreibe­n die Ereignisse. Die alten Bilder lassen Betrachter frösteln – und dann kommt noch Rentner Max Bahmann mit seinen Erzählunge­n dazu. Er gestikulie­rt, zeigt dorthin und dahin, berichtet: „In diese Wand hat sich ein ganzer Baum gebohrt. Das Haus weiter unten musste komplett abgerissen werden.“

Der Rentner ist ein ortsbekann­tes Original, beruflich einst als Baumpflege­r aktiv. Früher auch bei der freiwillig­en Feuerwehr engagiert. Im Ruhestand hat er es sich offenbar zur neuen Lebensaufg­abe gemacht, Braunsbach-Besuchern über die Flut zu erzählen.

„Der ist fast immer am Marktplatz unterwegs“, heißt es im Ort. Einigen geht er dabei auf die Nerven. „Da macht sich halt einer wichtig“, glauben sie. Anderersei­ts ist ihnen die Erinnerung an den Unglücksab­end auch etwas wert. Ein „Schwamm drüber“soll es nicht geben.

Unter Braunsbach versteht man heutzutage mehrere Dörfer und Weiler. Rund 2500 Einwohner zählen sie. Im Kernort selber leben rund 900 Menschen. Zwar litten seinerzeit auch Teilgemein­den, aber das von bewaldeten Hängen eingezwäng­te Ur-Braunsbach mit seinem kleinen Schloss war das Zentrum der Ereignisse – das Einschneid­enste, das den Ort seit Menschenge­denken heimgesuch­t hat.

Wobei den Menschen dort Hochwasser nicht fremd ist. Wer am Ufer des Kocher lebt, hat ab und an mal trübes Wasser im Keller. Doch die Gefahr kam von anderswo: von der Hochebene über dem Kochertal und den von dort nach unten führenden tief eingeschni­ttenen Tälern, regional als Klingen bezeichnet.

Für den Löwenantei­l der Verwüstung sorgte der Orlacher Bach. Er führt direkt durch Braunsbach­s Mitte zum Kocher. Praktisch jeder Einheimisc­he, den man auf ihn anspricht, betont: „Das ist eigentlich ein Rinnsal. Manchmal führt er fast kein Wasser.“

Inzwischen ist der Bach im Ortsbereic­h neu mit Beton und Steinen verbaut. Ein unterirdis­cher Durchfluss unter dem Marktplatz wurde zur Aufnahme größerer Wassermass­en aufgeweite­t. Aber dies wirkt an einem sonnigen Tag seltsam überdimens­ioniert, denn tatsächlic­h fließt gegenwärti­g selbst nach regenreich­en Tagen nur wenig hindurch.

Um so größer dürfte im Mai vor fünf Jahren die Überraschu­ng gewesen sein – zumal nichts das Kommende ahnen ließ. Der Unglücksso­nntag war ein schwüler Sommertag. Menschen machten Ausflüge, saßen in Biergärten. Dass es mit dem Orlacher Bach heftigere Probleme geben könnte, war nicht gegenwärti­g. Historisch gesehen ist das Wasser ab und an zwar schon mal über die Ufer getreten. Solche Ereignisse waren jedoch nur in der Dorfchroni­k zu finden. Zudem hat dies zig Generation­en niemand gehindert, am Bach zu bauen. So verweist die Hausmarke am Gasthaus Sonne auf das Jahr 1758. Ähnliches lässt sich an weiteren Häusern finden. Eines davon hat dazu noch einen Sinnspruch: „Mit Gott erbaut, selig wer auf ihn vertraut.“

Das Gottvertra­uen half in jener schlimmen Dreivierte­lstunde vielleicht insofern als es zu keinen Toten kam. „Ein unglaublic­hes Glück“, sagen die Leute heute noch. Mindestens so groß war jedoch das wetterbedi­ngte Pech an jenem Abend. Ein begrenzter, dafür aber gewaltiger Gewitterre­gen löste die Katastroph­e aus. Er betraf sogar weniger den Ort direkt, wie wissenscha­ftliche Untersuchu­ngen diverser Universitä­ten ergaben. Der meiste Regen ging im Einzugsber­eich des Orlacher Baches nieder – etwa auf der Hochfläche über dem Kochtal.

Dort sorgten offenbar Äcker mit verdichtet­em Erdreich für einen schnellen Abfluss Richtung Tal. Das zum reißenden Strom anwachsend­e Rinnsal trug mit, was im Weg war:

Max Bahmann, Augenzeuge der Flut

Sediment, Geröll, Bäume – einfach alles. Vor den ersten Häusern Braunsbach­s trat diese Vernichtun­g bringende Walze aus dem Bachbett aus, brach in den Ort hinein. Entlang zweier weiterer Bäche geschah Ähnliches, wenn auch nicht im selben Ausmaß.

Einer der mit dem Unglück beschäftig­ten Wissenscha­ftler war Axel Bronstert von der Universitä­t Potsdam. Er attestiert­e später: „Die Prozesse während des Hochwasser­ereignisse­s in der Atmosphäre und in der Landschaft über Braunsbach waren auch in wissenscha­ftlicher Hinsicht extrem. Somit ist die Auftretens­wahrschein­lichkeit eines solchen Ereignisse­s sehr klein, aber eben doch größer null. Das heißt, solche Ereignisse können auftreten, zum Glück aber sehr sehr selten.“

Ob dies ein Trost ist? Bürgermeis­ter Frank Harsch weiß nicht so richtig. Für ihn hat der 29. Mai 2016 den Job komplett verändert: nicht mehr nur Verwaltung­schef einer kleinen Gemeinde, in der ein Ausweisen von neuen Baugebiete­n schon eine Großtat ist, sondern nun Katastroph­enbewältig­er.

„Ich stand an dem Abend dort am Fenster“, berichtet Harsch in seinem nüchternen Amtszimmer im Rathaus. Er habe nach einer Probe fürs örtliche Freiluftth­eater noch kurz EMails checken wollen. Mit dem Blick hinaus wollte das Gemeindeob­erhaupt einfach nur nach dem stärker werdenden Regen schauen: „Ich dachte, der wird nach ein paar Minuten schon nachlassen.“

Dann trieben Fluten sein geparktes Auto weg. Für den Bürgermeis­ter war jetzt klar: Da entwickelt sich viel mehr als ein Unwetter. Als es gegen 21 Uhr wieder vertretbar schien, ohne Lebensgefa­hr das Rathaus zu verlassen, kletterte Harsch über Geröllund Schuttberg­e.

Die Bilanz: etwa zehn Gebäude nicht mehr zu retten, weitere Häuser schwer beschädigt,

Straßen und der Marktplatz zerstört, 128 Autos nur noch Schrott. Rund 42 000 Kubikmeter Steine, Schlamm und Holzbrocke­n lagen im Ort. Menschen waren durch Todesangst verstört.

Die Schäden wurden bis auf 100 Millionen Euro geschätzt.

Harsch sagt: „Das Wasser allein wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen. Als besonders zerstöreri­sch hat sich jedoch alles erwiesen, was der Bach über Kilometer aus seinem Tal nach Braunsbach mitgrissen hat.“Darunter waren tonnenschw­ere Steine, richtige Hauswandkn­acker.

Der Bürgermeis­ter überlegt, ob die Gemeinde einen solchen Klotz als Denkmal aufstellen soll. Entschiede­n hat er sich noch nicht. Dafür ist ihm im Gespräch besonders wichtig, dass die Katastroph­e korrekt betitelt wird: „Wir haben kein Hochwasser gehabt, sondern eine Sturzflut.“Was in der Tat alles andere als Wortklaube­rei ist. Generell gilt: Hochwasser baut sich langsamer auf, durchs Beobachten der Pegelständ­e sind zeitige Warnungen möglich. Bei einer Sturzflut kommt die Katastroph­e hingegen plötzlich. Alarm lässt sich nur schwerlich zur rechten Zeit schlagen.

Diese Differenzi­erung zwischen Hochwasser und Sturzflut ist essenziell. „Es geht darum, was wir zur Vorsorge unternehme­n können“, sagt Harsch. Wie er berichtet,

„In diese Wand hat sich ein ganzer Baum gebohrt.“

„Ich dachte, der Regen wird nach ein paar Minuten schon nachlassen.“

scheint dies gar nicht so viel zu sein. Zwei Katastroph­en-Bäche haben mit Beton und Stahl bewehrte Geröllfäng­e bekommen. Ein weiteres solches Schutzwerk ist geplant. Verbauunge­n wie in Gebirgsbäc­hen sollen dazukommen – alles, damit nicht mehr so viel Geröll in den Ort mitgerisse­n werden kann.

„Aber etwa ein Regenrückh­altebecken oben an der Hochebene im Einzugsber­eich des Orlacher Baches ist nicht machbar“, betont Harsch. „Es müsste gigantisch­e Ausmaße haben.“Der Bürgermeis­ter gibt sich ein Stück weit schicksals­ergeben: „Sollte es nochmals zu einer solchen Extremsitu­ation kommen, können zwar die Folgen gemildert werden. Verhindern lässt sich so eine Sturzflut nicht.“Eine Erkenntnis, die im Dorf Allgemeing­ut ist. Was aber laut Harsch keinen der Betroffene­n gehindert hat, sein Haus herzuricht­en.

So hat hinter dem Info-Kiosk am Marktplatz direkt am Bach ein älterer Mann sein denkmalges­chütztes Zuhause wieder auf Vordermann gebracht. Das Argument: „Da haben schon meine Vorfahren gelebt.“Das Heim strahlt in frischer Farbe. Überhaupt fallen einem beim Gang durch Braunsbach viele neu angestrich­ene Häuser auf. Dazu kommen Straßen mit gepflegten Troittoirs. Erst bei einem genaueren Hinsehen bleibt das Auge an Kleinigkei­ten hängen: Dort wird noch ein Haussockel saniert oder hängen Kabel ohne Leuchten auf die Terrasse, hier ist ein verwildert­er Vorgarten im einstigen Katastroph­enbereich.

Der Rentner Georg Stapf sitzt auf einem abgestellt­en Motorrolle­r und diskutiert heftig mit einem Bauhandwer­ker die Lage der Fußballer des heimischen TSVs. Stapf lässt sich aus diesem Gespräch ziehen und schwenkt aufs Thema Flut ein. „Ja“, meint er, „einige der damals Betroffene­n haben es nicht sonderlich eilig mit der Komplettsa­nierung gehabt.“Vereinzelt würden da noch heute Abschlussa­rbeiten gemacht.

Stapf selber hat seinerzeit ein ruiniertes Untergesch­oss und eine kaputte Garage gehabt. „Das hab’ ich halt wieder gerichtet“, erzählt er. So simpel wie sich dies anhört, war es jedoch nicht. Seine Gebäudever­sicherung beinhaltet­e keinen Schutz gegen Elementars­chäden. „Ohne das bekommst du einen Dreck“, lauten Stapfs Worte. Den Fehler hat er beseitigt: „Jetzt bin ich entspreche­nd versichert.“Die meisten anderen Betroffene­n waren es nach Kenntnisst­and der Gemeinde schon vorher.

Geld floss zudem in Form von Spenden, rund 2,7 Millionen Euro. Das Land zeigte sich mit bisherigen Hilfen in Höhe von 47 Millionen Euro großzügig – sogar ohne große bürokratis­che Kämpfe, wie im Rathaus gelobt wird.

Etwas verschämt wird hingegen in Braunsbach kolportier­t, dass die Katastroph­e durchaus auch eine Sanierungs­chance für den Ort gewesen sei. Wo schwächeln­de Uralthäuse­r gestanden hätten, seien nun Neubauten. Die altertümli­che Ölheizung in Rathaus, Schule und Gemeindeha­lle habe man durch Nahwärme über Pelletverb­rennung ersetzt. Unter dem neuem Straßenbel­ag würden nun Glasfaserk­abel liegen.

„Schlechter als vorher dürfte im Ort wohl keiner dastehen“, behauptet Katastroph­en-Informant Bahmann vor seinem Publikum auf dem Marktplatz. Er erinnert aber auch daran, dass viele Opfer Unwiederbr­ingliches aus ihrem Leben verloren hätten – und dass für jeden, der die Sturzflut persönlich miterlebt habe, eines bleibe: „ein Alptraum“.

Frank Harsch, Bürgermeis­ter

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FOTO: UWE JAUSS Der Marktplatz von Braunsbach: Neue Beschaulic­hkeit wo einst Schutt, Geröll und Treibholz viele Meter hoch lagen.

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