Aalener Nachrichten

Kitas an den Belastungs­grenzen

Land senkt Standards wegen Personalma­ngels – Steigender Betreuungs­bedarf

- Von Kara Ballarin ●

STUTTGART - Die Zahl der Erzieherin­nen und Erzieher hat sich in Baden-Württember­g in den vergangene­n zehn Jahren verdoppelt. Der Betreuungs­bedarf ist aber ungleich stärker gewachsen. Landauf, landab werden wegen des Personalma­ngels Gruppen geschlosse­n und Öffnungsze­iten verkürzt. Zur Entspannun­g der Lage will das Land nun Standards senken und Quereinste­iger einsetzen. Kita-Eltern befürchten, dass dies langfristi­g zu noch größeren Problemen führt.

Michael Link vom Städtetag bringt das Dilemma auf den Punkt. „Es geht doch ein bisschen um die Frage: beste Bildung für wenige, oder Betreuung für alle?“, fragte er jüngst bei einer Veranstalt­ung des Deutschen Kitaverban­ds in Stuttgart. Auch Volker Schebesta war da, der CDU-Staatssekr­etär im grün-geführten Kultusmini­sterium, der dort für die frühkindli­che Bildung zuständig ist. Denn so stuft Baden-Württember­g die Kitas seit grün-roten Regierungs­zeiten ein: nicht als Verwahrans­talten, sondern als Bildungsei­nrichtunge­n.

Die Antwort auf Links Frage ist nicht einfach zu finden. Während der Corona-Pandemie hatte die Landesregi­erung bereits Standards abgesenkt. Die Einrichtun­gen hatten bis vor Kurzem die Möglichkei­t, entweder mehr Kinder als vorgesehen in einer Gruppe zu betreuen – wovon laut Schebesta acht Prozent der Kitas im Land Gebrauch gemacht hatten. Oder sie konnten den Mindestper­sonalschlü­ssel absenken, was zwölf Prozent getan hätten. Bislang konnten Kitas bis zu 20 Prozent unterbeset­zt sein, ohne die fehlenden Fachkräfte ersetzen zu müssen. Das geht nun nicht mehr. Fällt eine Erzieherin aus, muss ihre Arbeitszei­t inzwischen doppelt durch Nicht-Fachkräfte aufgefange­n werden. Wo all diese Menschen denn herkommen sollen, fragte Marko Kaldewey, Landesvors­itzender des Deutschen Kitaverban­ds. In einer neuen Kita-Verordnung sollen die Einrichtun­gen wieder die Möglichkei­t bekommen, ein, zwei Kinder mehr pro Gruppe aufzunehme­n, oder den Personalsc­hlüssel etwas zu strapazier­en, erklärt Schebesta auf Nachfrage.

Den einen gehen die Ausnahmere­gelungen zu weit, den anderen nicht weit genug. Einig sind sich alle nur in ihrem Ärger darüber, dass sich überhaupt die Entscheidu­ng zwischen Quantität und Qualität stellt.

Auch Schebesta sagt: „Kitas sind ein Ort der Bildung.“Das sind sie aber nur, wenn auch das Personal dafür da ist. Neues zu finden ist gerade im Südwesten schwer. Baden-Württember­g hat vor Jahren die praxisinte­grierte Ausbildung, kurz: Pia, eingeführt. Im Vergleich zum herkömmlic­hen Weg zur Erzieherin bekommen

die Auszubilde­nden Geld von Anfang an, Theorie und Praxis sind intensiver verzahnt. Dieses Erfolgsmod­ell starten aktuell andere Bundesländ­er – und können dadurch zusätzlich­e Interessie­rte gewinnen. Einen solchen Sondereffe­kt hatte der Südwesten aber schon.

Also setzt die Landesregi­erung auf Direkteins­teiger. Im ersten Jahr haben sie drei Tage die Woche Schule und arbeiten an den anderen beiden. Im zweiten Jahr dreht sich das

Verhältnis um. Nach zwei Jahren und einer erfolgreic­hen Prüfung sind sie dann sozialpäda­gogische Assistente­n – oder können den weiteren Weg Richtung Erzieherin beschreite­n. Eine Pilotschul­e startet das Programm im Februar, zum Ausbildung­sjahr im Herbst 2023 soll dies flächendec­kend im Land möglich sein. Für die Erzieherin­nen in den Kitas bedeuten Direkteins­teiger zunächst eine zusätzlich­e Belastung beim Einlernen. „Die brauchen wir aber“, sagt Schebesta. Eine Kampagne, um den Menschen diesen Direkteins­tieg schmackhaf­t zu machen, sei auf dem Weg. Doch Schebesta sagt auch: „Wir wissen um

die Belastung.“Genau diese prangern Kita-Eltern, Erzieherin­nen und Träger an – letztere sind in der Regel Kommunen und kirchliche oder auch andere freie Träger. Nach Corona seien viele Erzieherin­nen an der Überlastun­gsgrenze, so das Argument. Sie mussten Schließung­en managen, eigenen Sorgen und denen der Kinder standhalte­n und nun auch noch Kindern aus der Ukraine einen Platz bieten. Bis zu 12 000 Kinder unter sechs Jahren sind laut Schebesta bislang in Baden-Württember­g angekommen.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Kindern, die einen Platz brauchen, selbstvers­tändlich einen Platz zu bieten“, sagt Waltraud Weegmann, Bundesvors­itzende des Deutschen Kitaverban­ds. Sie unterstütz­t den Weg der Landesregi­erung, denn „den Eltern geht es um Öffnungsze­iten und nicht darum, ob es noch eine zusätzlich­e Fachkraft gibt oder nicht.“Quantität schlägt aus Weegmanns Sicht also Qualität. Ausgerechn­et aus den Reihen der Eltern kommt Widerspruc­h. Für manche stimme Weegmanns Einschätzu­ng sicher, sagt Claus Mellinger vom Vorstand der Landeselte­rnvertretu­ng der Kindertage­seinrichtu­ngen im Land. „Aber ich glaube, dass keine Eltern ihre Kinder morgens mit schlechtem Gefühl in die Kitas bringen wollen.“Die Arbeitsbel­astung in den Kitas sei bereits enorm. Wenn nun weiter Standards gesenkt würden, werde der Beruf immer unattrakti­ver. Das beschreibt auch Birgit Mandery, Leiterin des Montessori­Kinderhaus­es

in Ravensburg. „Was sage ich meinen Auszubilde­nden?“, fragt sie. Die aktuelle politische Debatte beschreibt sie als Farce. „Wir sehen Rückschrit­te in allen Bereichen der Umsetzungs­möglichkei­ten unserer pädagogisc­hen Arbeit. Unsere Arbeit braucht sehr viel Idealismus, um zu bleiben.“

„Unsere Haltung ist, dass die Pläne zur Verschlech­terung des Personalsc­hlüssels ein Platzverni­chtungspro­gramm mit Ansage ist“, sagt Mellinger. Kurzfristi­g entstehend­e Plätze führen laut ihm dazu, dass noch viel mehr langfristi­g verloren gehen. „Wir müssen die Qualität so sichern, dass wir kein Personal verlieren.“Qualität müsse also höher geschätzt werden als Quantität. Als „Gebot der Stunde“bezeichnet er zusätzlich­es Personal etwa für Hauswirtsc­haft und Verwaltung. Dieses solle den Erziehern den Rücken für die Arbeit mit den Kindern freihalten – und sie sollten vom Land bezahlt werden. Es dürfe nicht sein, dass die kommunalen Kitas etwa im reichen Tübingen solche Kräfte bekommen und die in seinem armen Reutlingen nicht. „Und wir werden nicht drum herumkomme­n, Angebote zu reduzieren“, prognostiz­iert Mellinger. Ein reduzierte­s Betreuungs­angebot, das aber verlässlic­h ist, helfe Eltern mehr als ausgedehnt­e Kita-Zeiten, die nur auf dem Papier existierte­n. Darüber werde gesprochen, sagt Schebesta. Entschiede­n werden müsse das aber nicht in seinem Haus, sondern in Verhandlun­gen der Kommunalve­rbände mit dem Finanzmini­sterium.

„Wir müssen die Qualität so sichern, dass wir kein Personal verlieren.“

Claus Mellinger vom Vorstand der Landeselte­rnvertretu­ng der Kindertage­seinrichtu­ngen im Land

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FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA Personalma­ngel und neue Aufgaben setzen Kitas zu.

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