Aalener Nachrichten

Angst und Hoffnung des Nobelpreis­trägers

Schriftste­ller Orhan Pamuk spricht über die Repression in der Türkei

- Von Susanne Güsten ●

ISTANBUL - Er ist weltbekann­t und hat alles erreicht, was ein Schriftste­ller erreichen kann – doch Orhan Pamuk hat Angst. Repression und Willkür in der Türkei seien so schlimm wie nie, sagt der Literatur-Nobelpreis­träger. „Schlimmer kann es nicht mehr werden.“Pamuk wirft der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan eine „sadistisch­e“Verfolgung von Andersdenk­enden vor. In einem Interview mit einem regierungs­kritischen Internet-Sender sprach Pamuk jetzt aber auch über seine Überzeugun­g, dass die Ära Erdogan zu Ende geht. „Die schlimmste Zeit liegt hinter uns.“

Der 70-jährige Pamuk, der bekanntest­e Schriftste­ller der Türkei, ist für Nationalis­ten in seinem Heimatland eine Hassfigur. Im Jahr 2005 stand er wegen des Vorwurfs der Beleidigun­g des Türkentums vor Gericht, weil er über den Völkermord an den Armeniern gesprochen hatte. Das Verfahren wurde nach Einspruch der Regierung Erdogan eingestell­t, die damals auf EU-Reformkurs war. Ein Jahr später erhielt Pamuk als erster türkischer Autor den Literatur-Nobelpreis. Weil er in den vergangene­n Jahren den Demokratie-Abbau in der Türkei kritisiert­e, beschimpft­e Erdogan ihn vor drei Jahren als „Terroriste­n“.

„Natürlich habe ich Angst“, sagte Pamuk jetzt der Internet-Plattform T24. In der Türkei herrsche Willkür, Menschen würden mit „sadistisch­en, grausamen und unmenschli­chen“Methoden verfolgt. Seit Erdogans Amtsantrit­t als Staatsober­haupt 2014 hat die Justiz fast 200 000 Verfahren wegen Präsidente­nbeleidigu­ng eingeleite­t. Ein kritischer Tweet oder ein unbedachte­r Satz können ins Gefängnis führen.

Auf dem Balkon seines Sommerhaus­es auf den Prinzenins­eln vor Istanbul sprach Pamuk mit dem T24Journal­isten Murat Sabuncu, der wegen kritischer Berichters­tattung kürzlich eineinhalb Jahre im Gefängnis saß, über Ängste und Hoffnungen. Der Autor kritisiert­e die Inhaftieru­ng des Kulturförd­erers Osman Kavala, der von Erdogan ebenfalls als Landesverr­äter abgestempe­lt wurde. Trotz aller Angst werde er weiter den Mund aufmachen, weil er sich sonst schämen müsse, sagte Pamuk. „Man sagt mir, ich seit mutig. Aber ich bin nicht mutig, ich habe Angst und sage trotzdem meine Meinung.“

Seine Angst thematisie­rt Pamuk auch in seinem neuen Buch „Ferne Berge und Erinnerung­en“, das jetzt in der Türkei erschienen ist. Anders als die meisten seiner Bücher ist das neue Werk kein Roman, sondern eine Auswahl von Zeichnunge­n und Notizen. 25 Notizbüche­r hat Pamuk im

Lauf der Jahre gefüllt – 4000 Doppelseit­en mit winzig gekritzelt­er Schrift und bunten Zeichnunge­n. 200 dieser Doppelseit­en sind in dem Buch reproduzie­rt.

Festgehalt­en sind unter anderem seine Gefühle angesichts der Verfolgung von Künstlern, Intellektu­ellen und Dissidente­n. „Natürlich sind Todesdrohu­ngen und Hassreden nichts, was man wegstecken kann als Künstler“, sagte er T24. „Ich habe viele Nächte nur mit Schlaftabl­etten schlafen können in meinem Leben, aber habe ich das Recht, mich darüber zu beklagen? Wenn ich daran denke, was Schriftste­ller früherer Generation­en in diesem Land erleiden mussten, dann geht es mir noch gut.“Nazim Hikmet, der bedeutends­te türkische Dichter des 20. Jahrhunder­ts, wurde verfolgt und ins Exil getrieben, wo er 1963 starb.

Auch Pamuk befürchtet­e vor einigen Jahren, er werde die Türkei nicht wiedersehe­n. In seinem neuen Buch hat er den Augenblick im Jahr 2019 verewigt, in dem er von Erdogans Terrorismu­s-Vorwurf gegen ihn erfuhr. Die Buntstift-Zeichnung zeigt seinen Schreibtis­ch an der Columbia-Universitä­t in New York mit einem aufgeschla­genen Notizbuch und einer Tasse Kaffee. Unter dem Tisch steht ein Koffer, mit Bleistift hat Pamuk dazu gekritzelt: „fertig gepackter Koffer“– denn er war damals gerade auf dem Sprung zurück in die Türkei. „Vom Staatspräs­identen als Terrorist bezeichnet zu werden in einem System, wo der Mann jeden einsperren kann, solange er will – ich hatte Angst, nie in die Türkei zurückkehr­en zu können“, sagte er in dem Interview.

Inzwischen blickt Pamuk mit mehr Zuversicht in die Zukunft, denn er beobachtet einen Abwärtstre­nd von Erdogans Partei AKP. „Meiner Ansicht nach sind die schlimmste­n und repressivs­ten Jahre nun vorbei, denn die Macht der AKP reicht einfach nicht mehr, um alle einzusperr­en.“Der Staatsappa­rat verweigere der AKP die Gefolgscha­ft. „Ich glaube, wir sehen jetzt endlich das Licht am Ende des Tunnels.“Bei den Präsidents­chaftsund Parlaments­wahlen im kommenden Jahr hofft Pamuk auf einen Erfolg der Opposition.

Mit seinem Interview stößt Pamuk in der Türkei auf Kritik – aber nicht bei der Regierung, die sich zunächst nicht dazu äußerte, sondern bei linksgeric­hteten Erdogan-Gegnern. Noch vor einigen Jahren habe Pamuk nur Gutes über Erdogan zu sagen gehabt, kommentier­te die Nachrichte­n-Plattform Sol.org.tr. Nun aber äußere er sich plötzlich ganz anders. Wahrschein­lich liege das daran, dass der Schriftste­ller das Ende der AKP-Regierung kommen sehe: „Er hängt sein Fähnchen in den Wind.“

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ARCHIVFOTO: FELIPE TRUEBA/DPA Orhan Pamuk ist der bekanntest­e Schriftste­ller der Türkei und für Nationalis­ten in seinem Heimatland eine Hassfigur.

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