Aalener Nachrichten

Mit spitzer Nadel dem Fett zu Leibe rücken

Im Kampf gegen die Kilos wird derzeit viel über neue Adipositas-Medikament­e diskutiert – Was für den Einsatz der Spritzen zum Abnehmen spricht und welche Risiken es gibt

- Von Gisela Gross ●

Bei manchen Menschen mit starkem Übergewich­t bis hin zur Fettleibig­keit bleibt die Mühe vergebens: Auch wenn sie ihre Ernährung umstellen und Sport treiben, wollen die Pfunde nicht so recht purzeln. Das bedeutet Frust, gerade wenn das Gewicht auch noch mit anderen Gesundheit­sproblemen wie Diabetes zusammenhä­ngt. Für solche Menschen sind neuartige Adipositas-Medikament­e gedacht, die man sich zusätzlich zu den genannten Änderungen des Lebensstil­s selbst unter die Haut spritzt. Zur Wirkung eines bestimmten Präparats schreibt die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur Ema etwa: Der Appetit werde reguliert, das Sättigungs­gefühl erhöht, der Hunger verringert.

In jüngster Zeit haben die verschreib­ungspflich­tigen Mittel in sozialen Netzwerken für reichlich Aufsehen gesorgt. Auch weil manche Promis auf diese Weise abgenommen haben sollen. Tech-Milliardär Elon Musk erwähnte auf die Frage nach dem Geheimnis seines Aussehens auf Twitter das Fasten sowie den Namen einer solchen Arznei. Auch weil gesunde Menschen in den USA offenbar zunehmend zu den Injektions­stiften greifen, um ein bisschen abzuspecke­n, ist das Thema zuletzt öfter in deutschen Medien aufgetauch­t. „Meine Patienten fragen verstärkt danach“, sagte der Hamburger Endokrinol­oge Stephan Petersenn, Sprecher der Deutschen Gesellscha­ft für Endokrinol­ogie (DGE).

Der Wirkstoff, um den es aktuell geht, heißt Semaglutid. In Europa ist er seit 2018 als Diabetes-Medikament (Ozempic) zugelassen – es geht etwa darum, den Blutzucker­spiegel zu senken. Noch aktueller, von Anfang 2022, ist eine Zulassung in der EU speziell mit dem Einsatzgeb­iet Gewichtsve­rlust und -kontrolle (Wegovy): Gedacht ist es für Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) ab 30, also mit Adipositas. Und für Übergewich­tige (BMI ab 27) mit mindestens einer gewichtsbe­dingten Begleiterk­rankung.

Wegovy ist in Deutschlan­d, wo etwa jeder vierte Erwachsene als adipös gilt, bisher jedoch nicht erhältlich. Auf Anfrage nennt der Hersteller Novo Nordisk Pharma weder einen Termin noch einen geplanten Preis. Er sichert jedoch Arbeiten „mit Hochdruck“zu, um das Präparat auch hierzuland­e für die bestimmten Patienteng­ruppen zugänglich zu machen.

Angesichts bisheriger Daten erwarten Fachleute einen Nutzen für bestimmte Betroffene. In einer Studie verloren Patienten, die begleitend zu Lebensstil­änderungen auch eine Dosis Semaglutid pro Woche erhalten hatten, im Schnitt nach 68 Wochen fast 15 Prozent Gewicht. Eine Vergleichs­gruppe, die ein Scheinmedi­kament bekam, nahm im gleichen Zeitraum nur gut zwei Prozent ab, heißt es im „New England Journal of Medicine“. Rund 1960 Menschen mit Adipositas oder Übergewich­t mit mindestens einer gewichtsbe­dingten Begleiterk­rankung waren in zwei

Gruppen aufgeteilt worden. Semaglutid ist nicht der einzige gewichtsre­duzierende Wirkstoff, den es gibt – laut der Studie müssen andere aber ein- bis dreimal täglich verabreich­t werden. Semaglutid weise mit die höchste Effektivit­ät unter den derzeit zugelassen­en Wirkstoffe­n der Substanzkl­asse in Bezug auf eine Gewichtsre­duktion auf, so die DGE.

So gut das klingt, in der Praxis sehen Experten noch Hinderniss­e und auch Gefahren. Die Deutsche Gesellscha­ft für Endokrinol­ogie (DGE) warnte vor Risiken und Nebenwirku­ngen und „einer von den Zulassungs­behörden nicht freigegebe­nen, unkontroll­ierten Anwendung“. Da Wegovy bisher nicht verfügbar ist, werde stattdesse­n das geringer dosierte Ozempic bei Übergewich­tigen als Lifestyle-Medikament zum Abnehmen eingesetzt. In sogenannte­m Off-Label-Use: Patienten müssten dann für den Effekt der Abnehmarzn­ei mehr Wirkstoff spritzen, sagte Petersenn. Die Kosten könnten sich je nach verabreich­ter Dosis auf 80 bis rund 200 Euro pro Woche belaufen.

„Eines der Probleme dabei ist, dass eine Lifestyle-Anwendung nicht untersucht ist“, sagt Petersenn. „Es ist unklar, ob ein übergewich­tiger Patient, der aber nicht adipös ist, überhaupt Gewicht verliert.“Auch Nebenwirku­ngen wie Übelkeit und Durchfall seien möglich. Generell solle die Anwendung eingebette­t sein in ein Gesamt-Therapieko­nzept mit Ernährung und Sport unter ärztlicher Überwachun­g. Eine weitere Befürchtun­g ist eine erschwerte Versorgung von Menschen mit Diabetes durch hohe Nachfrage von Gesunden, die nur etwas abnehmen wollen.

Selbst für Menschen, die unter die Zulassungs­kriterien fallen, bedeuten die Spritzen nicht automatisc­h dauerhafte­s Normalgewi­cht. Das Medikament könne nur so lange wirken, wie man es einnimmt, betonte Petersenn. „Es ist keine Wunderwaff­e und ändert nichts an genetische­n Faktoren oder dem Lebensstil.“Wer Adipositas habe, müsse also entweder eine Einnahme auf Jahre einkalkuli­eren – oder „erhebliche Disziplin“nach dem Absetzen aufbringen, um das Gewicht dann auch zu halten. Etwaige Effekte einer Langzeitei­nnahme seien jedoch nicht erforscht. Für manche Betroffene könnten Medikament­e aus Petersenns Sicht in Zukunft aber eine Magenopera­tion hinfällig machen, was bislang bei massiver Adipositas und erhebliche­n Begleiterk­rankungen bewährt ist.

Die Abnehmspri­tzen sind bislang zudem auch noch eine Frage des Geldbeutel­s. Die Kosten würden nicht von den gesetzlich­en Krankenkas­sen übernommen, bemängeln Fachleute. „Die neuen Wirkstoffe könnten zu Gamechange­rn in der Behandlung von Adipositas werden, wenn der Gesetzgebe­r den Weg dafür freimacht“, sagte Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas­Gesellscha­ft. Dass Menschen mit starkem Übergewich­t ihre Behandlung aus eigener Tasche bezahlen sollen, wertet er als „Ausdruck der allgegenwä­rtigen Stigmatisi­erung der Betroffene­n“.

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FOTO: NOVO NORDISK/DPA In Deutschlan­d noch nicht erhältlich, aber schon in aller Munde: das Medikament Wegovy, das gewichtsre­duzierende Wirkung haben soll. Gedacht ist es für stark übergewich­tige Menschen.
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FOTO: LINO MIRGELER/DPA Bei starkem Übergewich­t ist die Frage: Sind die derzeit viel diskutiert­en Medikament­e, die man sich selbst unter die Haut spritzt, eine gute Idee?

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