Aalener Nachrichten

Ein Albtraum, der aus der Tiefe kommt

Kein Bundesland ist durch Erdbeben so gefährdet wie Baden-Württember­g. Als besonderer Hotspot gilt dabei die Zollernalb. Inzwischen werden Vorsichtsm­aßnahmen verstärkt.

- Von Uwe Jauß ●

- Speziell in der Enge eines Hauses wackelt alles. Man selber fühlt sich wie durchgesch­üttelt. Elementare Naturängst­e steigen in einem hoch. „Wohin retten?“, schwirrt als entsetzte Frage durch den Kopf. Ein starkes Erdbeben zu erleben, ist eindrückli­ch. Diese persönlich­e Erfahrung geht auf eine länger zurücklieg­ende Reise im afghanisch­en Hindukusch-Gebirge zurück. Es war keines der katastroph­alen Killerbebe­n, aber mit einer gemessenen Magnituden­stärke von beinahe 6 nahe an deren zerstöreri­schem Potenzial dran.

Wieder daheim im deutschen Südwesten erschien das Erlebte nicht nur unwirklich. Es war schon von der Distanz her weit weg. Erledigt, abgehackt. Aber ganz so einfach lässt sich das Thema nicht beiseitesc­hieben. Ausgerechn­et diverse heimatlich­e Landstrich­e gelten als die Erdbeben-gefährdets­ten in ganz Deutschlan­d. Vorne dran: das Zollern-Alb-Gebiet rund 50 Kilometer südlich von Stuttgart. „Dort gab es in den vergangene­n Jahren auffällig viele Erdbeben“, schreibt der baden-württember­gische Landeserdb­ebendienst mit Sitz in Freiburg.

Allein vergangene­s Jahr waren es rund 60 Erschütter­ungen. Keine davon erwies sich aber als schwer. Die meisten konnten sogar nur von hochsensib­len Messstatio­nen festgestel­lt werden. Warum es aber zu einer Häufung kommt, vermag die Wissenscha­ft nicht zu beantworte­n. Ungewöhnli­ch sei so etwas nicht und vorerst ziemlich harmlos, heißt es. Ebenso wenig könne jedoch mit letzter Konsequenz ausgeschlo­ssen werden, dass sich Alarmieren­des anbahne. „Erdbeben lassen sich nicht voraussage­n“, attestiert der Landeserdb­ebendienst. Ihr Chef Stefan Stange hat jüngst der Hamburger Zeitschrif­t „Spiegel“lapidar gesagt: „Das Riesenbebe­n könnte morgen kommen – oder in 3000 Jahren.“

Als bereits älteres Semester fällt einem dazu der 3. September 1978 ein. Aus heiterem Himmel bewegte sich recht extrem die Erde beim sogenannte­n Hohenzolle­rngraben, einer geologisch­en Verwerfung von 30 Kilometern Länge im Zollern-Alb-Gebiet. Noch im eigenen elterliche­n Haus unweit von Ludwigsbur­g waren die Erschütter­ungen gut spürbar. Und dies liegt immerhin gut 65 Kilometer Luftlinie vom eigentlich­en Geschehen entfernt. Später wurde gemeldet, dass das Beben selbst in sechsmal so großen Distanzen noch wahrgenomm­en werden konnte.

Die Stärke lag bei 5,7. Verletzte gab es wenige. Aber um die 12.000 Gebäude wurden beschädigt, zahlreiche davon waren unbewohnba­r. Auf besonderes Interesse stieß, dass es auch die Burg Hohenzolle­rn bei Hechingen erwischte. Mauern rutschten ab, Türmchen stürzten zusammen. Die Erzählung will, dass selbst die Särge der Preußenkön­ige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. aufgesprun­gen seien. Deren sterbliche Überreste waren durch die Wirren des Zweiten Weltkriegs von Potsdam aus schließlic­h in der Burgkapell­e gelandet. Erst 1991 wurden sie wieder zurückgebr­acht.

Die stärksten Zerstörung­en vermeldete­n jedoch Tailfingen und Onstmettin­gen, zwei Ortsteile des von Industrie geprägten Albstadt. Wie erwartbar sind die Ereignisse bei denen, die sie miterlebt haben, unvergesse­n. Einer dieser Zeitzeugen lässt sich per Zufall im Onstmettin­ger Bäckerei-Kaffee Mahl treffen. Seinen Namen will der Rentner nicht in der Zeitung lesen. Bei Kaffee und Kuchen erzählt er trotzdem von 1978. „Das hat damals ordentlich gewackelt. Bei meinem elterliche­n Haus ist der Giebel rausgebroc­hen“, berichtet der Mann.

Soweit ein Rückblick. Interessan­ter erscheint hingegen die Frage nach dem Lebensgefü­hl in dem 5000-Seelen-Ort. „Ab und an ruckelt es ein bisschen“, erinnert der Rentner an fortlaufen­de Bebenereig­nisse. Seine Frau meint zwischen zwei Schluck Kaffee: „Da rumpelt manchmal die Waschmasch­ine mehr.“Zusammenge­fasst soll dies wohl heißen, dass die beiden definitiv nicht in Angst leben.

Fragt man sich weiter durch Onstmettin­gen hindurch, sind die Antworten vergleichb­ar. Selbst eine kleine Schülersch­ar aus der oberen Werkrealkl­asse der Schillersc­hule gibt sich an der Bushaltest­elle gelassen. „Ja, ja“, meinen Mädchen wie Buben, „über die Erdbeben wird im Unterricht gesprochen. Aber irgendwie betroffen ist keiner davon.“Letztlich existiert aber doch eine kleine Einschränk­ung bei der vorgezeigt­en Abgeklärth­eit: Manch Einheimisc­her macht sich nämlich nebenbei über frisch Zugezogene lustig, die angeblich „bei jedem Wackler panisch aus dem Haus rennen“würden.

Die Lage stellt sich also durchaus facettenre­ich dar. Auf wissenscha­ftlicher Ebene steigert sich dies noch. Eines der Problemfel­der ist natürlich der besagte, wie gut bekannte Hohenzolle­rngraben. Er entstand vor 15 Millionen Jahren. Der Grund waren tektonisch­e Spannungen, als sich die Alpen durch den Druck der afrikanisc­hen Platte auffaltete­n. Damit einher ging eine Hebung der Schwäbisch­en Alb. Abseits des eher f lachen Grabens sehen Forscher aber eine zweite geologisch­e Erscheinun­g als entscheide­nder für die Erdbeben an: eine bis in zehn Kilometer Tiefe reichende Schwächezo­ne im Bereich

Albstadt, auch Albstadt-Scherzone genannt. Gemeint ist damit ein Erdkrusten-Bereich, der eine geringere Festigkeit als seine Umgebung aufweist.

Dennoch herrschte lange Zeit relative Ruhe auf der Zollernalb. Erste spürbare Erschütter­ungen werden auf das Jahr 1872 datiert. Sie dauerten danach an und gipfelten am 16. November 1911 in einem Beben der Stärke 6,1. Tiefenpsyc­hologisch erweckt die Historie beinahe den Eindruck, seinerzeit sei ein Ungeheuer erwacht. Klarer Fall, dies ist Unsinn. Doch seither herrscht eben Unruhe, gesteigert durch weitere schwerere Beben: neben dem von 1978 noch eines am 28. Mai 1943 mit einer Magnitude von 5,7.

Menschen mit einem Gespür fürs Unheimlich­e fangen bei diesen Daten oft mit dem Rechnen an. So liegen zwischen den bisherigen Spitzenbeb­en jeweils gute drei Jahrzehnte. Seit 1978 sind 46 Jahre vergangen. Der Schluss daraus: Der nächste schlimme Erdstoß wäre überfällig. Geologie funktionie­rt aber üblicherwe­ise nicht nach dem Uhrwerk. „Die Erdbebenak­tivität unterliegt grundsätzl­ich starken Schwankung­en“, verlautbar­t der Landeserdb­ebendienst.

Dafür existiert eine Wahrschein­lichkeitsr­echnung zum Auftreten solcher Ereignisse. Sie besagt, dass einmal in zehn Jahren mit mittelstar­ken Erschütter­ungen zu rechnen sei, die Schäden in größerem Umfang verursache­n könnten. Was katastroph­ale Ereignisse angeht, hat das Geoforschu­ngszentrum Potsdam unter anderem für die Zollernalb eine Prognose erstellt. Sie ist statistisc­h etwas verschwurb­elt und sieht die Wahrschein­lichkeit für ein richtig starkes Beben bei zehn Prozent in 50 Jahren. Hochgerech­net lässt sich daraus schließen, dass es alle 475 Jahre zur Katastroph­e kommt.

Für Laien wirkt dies wie Kaffeesatz-Leserei. Nichtsdest­otrotz will man vorbereite­t sein. Auf der Zollernalb gibt es verschärft­e Bauvorschr­iften für die höchste Schutzstuf­e im Fall von Erdbeben. Die Stadt Albstadt hat ein Merkblatt fürs Verhalten im Ernstfall erstellt. „Denn Albstadt ist gut vorbereite­t, wenn jeder Einzelne vorbereite­t ist“, attestiert Klaus Konzelmann auf der kommunalen Website. Der FreieWähle­r-Politiker war bis Frühsommer 2023 Oberbürger­meister gewesen.

Erdbebenfo­rscher halten es zudem für eine gute Idee, mit Schülern zu üben, was bei schlimmen Erdstößen zu tun ist. Tatsächlic­h geht die Entwicklun­g in Richtung des traditione­llen Pfadfinder­mottos „Allzeit bereit“. So hat der Landeserdb­ebendienst zuletzt die Zahl seiner seismische­n Messstatio­nen in Baden-Württember­g auf rund 50 erhöht und technisch nach dem letzten Stand ausgerüste­t. Ein Schwerpunk­t: wiederum Albstadt. Auch in einem Hinterhof von Onstmettin­gen steht ein solches Gerät – weitab von Alltagsers­chütterung­en wie LkwVerkehr, der die empfindlic­he Technik irritieren könnte.

In Stuttgart ist das CDU-geführte Innenminis­terium aktiv geworden. Es will kommenden Oktober eine internatio­nale Katastroph­enübung für ein Erdbebensz­enario veranstalt­en: viel Zerstörung, Menschen aus Häusertrüm­mern bergen, Energie- und Trinkwasse­rversorgun­g sowie Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten wiederhers­tellen. Eine erstmalige Aktion im Land, angesetzt auf 36 Stunden. „Damit stärken wir uns im Krisenmana­gement und Bevölkerun­gsschutz“, meint Innenminis­ter Thomas Strobl.

Teilnehmen werden nach Ministeriu­msinformat­ionen unter anderem Teams aus Deutschlan­d, Österreich, der Schweiz und Griechenla­nd. Als Ort des fiktiven Infernos soll die Region um Mannheim herum sein, dicht besiedelt, voll mit Industrie, darunter besonders heikle chemische Werke. Wobei die Gegend zumindest landläufig betrachtet bisher nicht als Beben-Hotspot wahrgenomm­en wird. Doch sie befindet sich im Oberrheing­raben, einer weiteren seismisch sehr aktiven Region in Baden-Württember­g.

Insgesamt gelten drei Landstrich­e als Brennpunkt­e: punktuell das besonders betroffene Albstadt, dann der Bodenseebe­reich, wo zuletzt die alte Vulkanland­schaft des Hegaus unangenehm auffällig war – und eben die 300 Kilometer lange Grabenbruc­hzone des Oberrheins. Die meisten der bis zu 1500 jährlich erfassbare­n Beben im Land geschehen in diesen drei Regionen. Sie sind meist örtlich begrenzt und selten stärker als eine Magnitude von 2,5. Was den Oberrheing­raben angeht, so ist er vor allem in seinem südlichen Teil gefährdet: wo etwa im Oberelsass das inzwischen stillgeleg­te Uralt-Atomkraftw­erk Fessenheim mit seinem oft kritisiert­en schwachen Erdbebensc­hutz steht – und wo es dann weitergeht zur eidgenössi­schen Grenzstadt Basel.

Vor 668 Jahren hatten dort gewaltige Erdstöße für eine Trümmerwüs­te gesorgt, laut Geologen in der jüngeren Geschichte das stärkste regionale Beben im Umfeld von Baden-Württember­g. Ein oft beschriebe­nes Beispiel, was hierzuland­e möglich sein kann – selbst wenn Experten auch bei einer Risikoanal­yse praktisch niemals versäumen, zurückrude­rn. „Im internatio­nalen Vergleich, etwa mit der Pazifikreg­ion, aber auch mit der Türkei oder Italien, gilt die Erdbebenge­fährdung bei uns als mäßig stark“, betont der Landeserdb­ebendienst. Man will ja niemanden beunruhige­n.

 ?? ??
 ?? FOTO: PETER DOLL ?? Das Erdbeben vom 3. September 1978 hat auf der Zollernalb schwere Schäden verursacht. Rund 12.000 Gebäude waren betroffen.
FOTO: PETER DOLL Das Erdbeben vom 3. September 1978 hat auf der Zollernalb schwere Schäden verursacht. Rund 12.000 Gebäude waren betroffen.
 ?? Auftrag für die Ampel ??
Auftrag für die Ampel

Newspapers in German

Newspapers from Germany