Aalener Nachrichten

„Die Menschen sehen die historisch­en Gefahren nicht“

Peter Kenedi überlebte als Kind im Ghetto von Budapest – Zum Holocaust-Gedenktag warnt er vor zunehmende­m Antisemiti­smus

- Von Nils Sandrisser

(epd) - Peter Kenedi (Foto: epd) überlebte als Kind das Ghetto Budapest. Er verlor während der Schoah einen Onkel. Noch in Ungarn studierte er Medizin und wurde Kardiologe. Ein Jahr lang lebte er in den USA, kam danach nach Deutschlan­d und war Chefarzt in einem Frankfurte­r Krankenhau­s. Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalso­zialismus spricht der 86Jährige darüber, was der terroristi­sche Überfall der Hamas auf Israel verändert hat, welche Sorge ihm der Aufstieg rechtsnati­onaler Kräfte in Deutschlan­d und weltweit bereitet und was man gegen ihn tun könnte.

Herr Kenedi, was haben Sie gedacht, als Sie von dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober erfahren haben?

Ich war erschrocke­n und hatte Angst. Ich habe gute Freunde in Tel Aviv. Sie berichten mir von großen Ängsten. Es ist schwer, normal weiterzule­ben, aber sie versuchen es. Der 7. Oktober hat die Welt verändert. Auch die Lage in Deutschlan­d. Ich fühle mich nach wie vor gut und sicher hier. Aber die Reaktionen auf die Angriffe zeigen, dass sich etwas verändert hat. Die Medien und die Regierung stehen aufseiten Israels. Aber die Bevölkerun­g schweigt.

Glauben Sie, dass bezüglich der Haltung zu Israel etwas bei den Menschen ins Rutschen gerät?

Mich beunruhige­n die propalästi­nensischen Demonstrat­ionen oder die Proteste an Universitä­ten. Die Ursachen sind wohl multifakto­riell. Es gibt eine muslimisch­e Seite an der neu sichtbaren Judenfeind­lichkeit, es gibt eine rechtsextr­eme Seite, und es gibt eine linke Seite. Das bildet eine Mischung. Der Antisemiti­smus ist wesentlich stärker geworden seither. Im persönlich­en Umgang merke ich das nicht, aber

aus den Medien entnehme ich schon einen Stimmungsu­mschwung im Land.

Wie zeigt sich Ihnen dieser Umschwung?

Es gibt zwar viele Israel gegenüber wohlwollen­de Menschen in Deutschlan­d. Aber ich habe den Eindruck, sie wollen den Nahostkonf­likt wie so eine Art neutrale Beobachter, als Schiedsric­hter sehen. Sie wollen keine Stellung beziehen.

Sie sind ja auch nicht gezwungen dazu, also tun sie es auch nicht.

Was wünschen Sie sich von der Gesellscha­ft?

Bei den Demonstrat­ionen gegen Rechtsextr­emismus waren Hunderttau­sende auf den Straßen. Bei pro-israelisch­en Kundgebung­en waren es oft nur zwei-, dreihunder­t. Ich als jüdischer Bürger vermisse positive Reaktionen, nicht nur bei Demonstrat­ionen, sondern

auch im täglichen Leben.

Bereitet Ihnen zunehmende­r Rechtsextr­emismus Sorgen?

Viele Leute sind enttäuscht von der Tagespolit­ik. Sie wollen sicher nicht Migranten vertreiben, aber trotzdem wählen sie AfD. Und mit den Demonstrat­ionen alleine, auch wenn ich mich über sie gefreut habe, ist das Problem nicht gelöst. Ich glaube weiterhin, dass 70, 80 Prozent der Menschen in Deutschlan­d

die Demokratie erhalten wollen. Aber man muss nur an die Geschichte denken: Auch die Nazis hatten keine absolute Mehrheit. Man weiß nicht, wo die aktuelle Entwicklun­g noch hinführt. Je besser man sich in Geschichte auskennt, desto düsterer sieht man die Gegenwart. Aber das historisch­e Bewusstsei­n schwindet. Und dieses Jahr wird viel Neues ergeben, auch weltweit. Nicht nur bei uns wird gewählt. Die Hälfte der Weltbevölk­erung, ob in den USA oder in Russland, wird 2024 wählen. In den USA könnte Donald Trump wieder Präsident werden. Man muss kein Arzt sein, um zu erkennen, dass bei Trump eine schwere Persönlich­keitsstöru­ng vorliegt. Aber die Hälfte der Amerikaner könnte diesen gefährlich­en Menschen wählen, der die ganze Welt verändern kann.

Macht auch das Ihnen Sorgen?

Ja. Ich mag das Buch „The Plot Against America“von Philip Roth. Darin beschreibt er, wie die USA innerhalb von drei Jahren faschistis­ch werden. Das Buch ist natürlich zu großen Teilen fiktional, aber man sieht am Beispiel Ungarns, wie so etwas funktionie­ren kann. Viktor Orbán, der ja mal ein Linksliber­aler war, fährt dort einen rechtsnati­onalen, europafein­dlichen Kurs. Und nun rehabiliti­ert er den ungarische­n Reichsverw­eser Miklós Horthy, der autoritär regiert hat und Gesetze gegen Juden erließ. Orbán geht regelmäßig nach Rumänien und hetzt die dort lebenden Ungarn auf. Ich habe ein schlechtes Gefühl und befürchte einen Rechtsruck in der Welt. Nicht nur als Jude. Ich sehe die Demokratie gefährdet, weil die Menschen die historisch­en Gefahren nicht sehen.

Welche Vorgehensw­eise dagegen wünschen Sie sich?

Ich sehe viele Anstrengun­gen, die Bevölkerun­g wachzuhalt­en, auch seitens der Medien. Aber ob das reicht? Mir scheint, als ob viele Menschen die Welt nur noch in Schemata wahrnehmen. Und das ist auch ein Grund für zunehmende­n Antisemiti­smus. Es ist ermutigend, dass aktuell so viele Menschen gegen rechts demonstrie­ren. Aber das bedeutet nicht, dass sie morgen nicht rechts wählen. Die demokratis­chen Kräfte müssten dagegen zusammenha­lten und nicht nur ihre Parteiinte­ressen verfolgen. Die Demokratie lebt zwar davon, dass unterschie­dliche Meinungen konkurrier­en. Aber zu viel Streit ist kontraprod­uktiv.

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FOTO: SVEN MOSCHITZ/EPD Ein Foto auf einem ungarische­n Schutzpass des Roten Kreuzes des Holocaust-Überlebend­en Peter Kenedi. Das Foto zeigt ihn im Alter von sechs Jahren zusammen mit seiner Mutter Susanna.
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