Aalener Nachrichten

„Wir brauchen eine positive Vision für Europa und für die Welt, mit weniger tödlicher irreguläre­r Migration“

Der Forscher Gerald Knaus erklärt, warum er sich wenig von der Reform des europäisch­en Asylsystem­s erwartet und wieso er für Abkommen mit sicheren Drittstaat­en plädiert

- Von Claudia Kling und Jochen Schlosser ●

- Gerald Knaus, Leiter der Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e“(ESI), tritt für einen Paradigmen­wechsel in der Migrations­politik ein. Dazu gehören für ihn „Migrations­abkommen und auch Vereinbaru­ngen mit sicheren Drittstaat­en“. „Das Ziel kann nicht sein, dass Europa keine Flüchtling­e mehr aufnimmt. Es geht um Steuerung und Kontrolle“, sagte Knaus bei einem Redaktions­besuch in Ravensburg. Der Migrations­forscher war auf Einladung des CDUBundest­agsabgeord­neten Axel Müller in Ravensburg zu Gast.

Herr Knaus, wenn Sie gefragt werden, wann sich die Zahl der neu ankommende­n Migranten in Deutschlan­d reduzieren wird. Was antworten Sie?

Wir wissen nicht, wie der Krieg in der Ukraine verlaufen wird und wie viele Flüchtling­e von dort 2024 kommen werden. 2023 stieg die Zahl derer, die irregulär über das Mittelmeer in die EU kamen, ebenso die Zahl der Asylanträg­e in Deutschlan­d. Im Koalitions­vertrag finden wir ein überzeugen­des Konzept, irreguläre Migration zu reduzieren, aber bislang wurde es noch nicht umgesetzt. Anders als Rechtspopu­listen behaupten, ist es möglich, irreguläre Migration zu reduzieren, ohne Menschenre­chte aufzugeben. Dazu brauchen wir Migrations­abkommen und auch Vereinbaru­ngen mit sicheren Drittstaat­en. Und eine ernsthafte realistisc­he Politik.

Sie haben jetzt nicht die im Dezember beschlosse­ne Reform des europäisch­en Asylsystem­s erwähnt, die von der Bundesregi­erung gerühmt wurde. Warum nicht?

Stellen Sie sich doch selbst die Frage: Was bringen zwölfwöchi­ge Grenzverfa­hren für Asylbewerb­er in Italien mit wenig Aussicht auf Erfolg, wenn es danach weiterhin keine Rückführun­gen aus Italien in die Herkunftsl­änder geben wird. Dazu kommt: Viele Ägypter haben in Italien bislang oft überhaupt keine Asylanträg­e gestellt. Sie wurden aber trotzdem nicht abgeschobe­n. Es gab und gibt auch kaum Abschiebun­gen in die Elfenbeink­üste, nach Guinea oder Bangladesc­h – aus Italien so wenig wie aus Spanien, Frankreich und Deutschlan­d. Im vergangene­n Jahr kamen mehr als 160.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien, und Grenzverfa­hren werden diese Zahl nicht reduzieren.

Dennoch gibt es Befürchtun­gen, dass die geplanten Grenzverfa­hren erneut zu Zuständen führen werden wie auf einigen griechisch­en Inseln in der Ägäis. Das Lager Moria auf Lesbos hat es ja zu trauriger Berühmthei­t gebracht.

Das ist möglich, aber unwahrsche­inlich, weil es nicht im Interesse Griechenla­nds, Italiens und Spaniens wäre. Diese Länder wollen keine überfüllte­n, chaotische­n Lager auf ihren Inseln. Deshalb werden die ankommende­n Menschen auch jetzt schon oft schnell aufs Festland gebracht – und ziehen dann weiter. Im Übrigen müssen die geplanten Grenzverfa­hren nicht an der Außengrenz­e stattfinde­n, das kann auch in Mailand sein.

Zusammenge­fasst würden Sie also sagen: Nach der Reform ist vor der Reform?

Ja. Kaum ein Innenminis­ter in der EU erwartet ehrlicherw­eise davon einen Durchbruch. Die Lösungen liegen in anderen Formen der Kooperatio­n mit Staaten außerhalb der Europäisch­en Union. Die haben wir aber noch nicht.

Aber die Bundesregi­erung macht doch einiges. Sie hat stationäre Grenzkontr­ollen in Tschechien und der Schweiz veranlasst. Und vor Kurzem wurde ein Gesetz beschlosse­n, das Rückführun­gen erleichter­n soll. Bringt das auch nichts?

Stationäre Grenzkontr­ollen gibt es in Österreich seit Jahren, die Zahl der Asylanträg­e ist dort pro Kopf höher als in Deutschlan­d. Vieles, was Rückführun­gen in Deutschlan­d erleichter­n soll und an sich sinnvoll sein kann, gibt es auch in Österreich schon seit Langem. Und selbst wenn alle, die kommen, registrier­t wären, könnte Deutschlan­d Asylsuchen­de später nicht nach Griechenla­nd oder Ungarn zurückschi­cken. Verwaltung­sgerichte stoppen dies, weil dort der Schutz der Menschenwü­rde nicht gesichert ist.

Sie werben für Abkommen mit sicheren Drittstaat­en. Auch der britische Regierungs­chef Rishi Sunak kämpft dafür, Asylverfah­ren nach Ruanda auszulager­n. Aber ganz so einfach ist es wohl doch nicht.

Man kann von der Erfahrung in Großbritan­nien sehr viel lernen, leider auch, wie eine vernünftig­e Idee durch dilettanti­sche Umsetzung zu Recht von Gerichten gestoppt wurde. Die britischen Tories haben die offensicht­liche Tatsache ignoriert, dass es in einem sicheren Drittstaat auch glaubhafte Asylverfah­ren geben muss, und diese in Ruanda fehlten. Hätten die britischen Regierunge­n dies von vornherein ernst genommen, wären sie auch nicht vor Gericht gescheiter­t. Denn es gibt seit 2019 schon Transfers von Asylsuchen­den aus Libyen nach Ruanda, aber danach macht der UNHCR, das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen, die Asylverfah­ren.

Das heißt, die britische Regierung torpediert die Idee, für die sie kämpft.

Ja. Auch die Gerichte in London erklärten, im Prinzip wäre eine solche Lösung nicht im Widerspruc­h zum internatio­nalen Recht. Länder wie Deutschlan­d, Dänemark und Österreich könnten sofort zeigen, wie sich so irreguläre Migration reduzieren ließe und sich selbst Großbritan­nien als sichere Drittstaat­en anbieten.

Sie könnten vorschlage­n, dass sie vom 1. Februar an jeden, der in ein Boot aus der EU nach Großbritan­nien fährt, zurücknehm­en. Das sind im Winter etwa 1500 im Monat, aber nach zwei Monaten würde es niemand mehr versuchen. Im Gegenzug sollten die Briten ab jetzt jedes Jahr 20.000 Asylsuchen­de oder Flüchtling­e aus unseren Ländern legal aufnehmen. Das würde allen helfen, außer den Schmuggler­n. Es würde zeigen, wie Abkommen mit sicheren Drittstaat­en ohne Widerspruc­h zu gültigem Recht funktionie­ren könnten. Das könnte Bundeskanz­ler Scholz sofort machen – und dafür werben wir auch.

Wäre das die Blaupause, um es dann mit anderen Staaten zu probieren?

Ja. Es würde die Diskussion sofort versachlic­hen. Wir würden uns dann so verhalten wie die Türkei 2016 gegenüber der EU, als die

Türken angeboten haben, vom Stichtag 20. März an, Leute von den Inseln in Griechenla­nd zurückzune­hmen, um die irreguläre Migration zu reduzieren. Wenn eine Gruppe von EU-Staaten den Briten anböte, ihnen dabei zu helfen, könnte auch der brandgefäh­rliche Versuch, hier die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion auszusetze­n, beendet werden. Es wäre auch ein Modell für andere Länder. Bei Verhandlun­gen mit Senegal, Marokko oder der Türkei hätten wir eine sehr viel glaubhafte­re Position, wenn wir uns selbst als sichere Drittstaat­en anbieten.

Die Idee, Flüchtling­e gegen Geld oder Zugeständn­isse bei der Visavergab­e mit ärmeren Ländern zu tauschen, verstößt in Ihren Augen nicht gegen europäisch­e Werte?

Seit Anfang 2014 sind mehr als 28.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Wenn man die Zahl der Toten auf dem

Weg nach Europa drastisch reduzieren kann, ohne das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfah­ren einzuschrä­nken, wenn etwa dann der UNHCR wie in Ruanda die Verfahren machen würde, dann ist es destruktiv zu erklären, es sei unvorstell­bar, selbst für eine kleine Zahl von Asylsuchen­den in stabilen Ländern in Afrika glaubhafte Asylverfah­ren zu machen. Wenn wir dann, inspiriert vom Beispiel Kanadas, eine größere Zahl schutzbedü­rftiger Menschen legal aufnehmen, die nicht mehr ihr Leben riskieren müssen, wäre das auch aus moralische­r Sicht ein großer Fortschrit­t. Wir brauchen heute eine positive Vision für Europa und für die Welt, mit weniger tödlicher irreguläre­r Migration, dem Ziel null Tote im Mittelmeer und mehr legalen Wegen für Flüchtling­e.

Warum sind dann die Vorbehalte so groß?

Ich verstehe nicht, warum jemand, der sich für Flüchtling­srechte einsetzt, nicht für ein solches humaneres System eintritt. Der größte Menschenre­chtsskanda­l in der EU heute ist die Kooperatio­n mit Libyen. Wir wissen, dass von 2017 bis Ende 2023 ungefähr 100.000 Menschen vom Mittelmeer nach Libyen zurückgebr­acht wurden – mit finanziell­er und logistisch­er Unterstütz­ung der EU. Wir wissen, dass viele dieser Menschen gefoltert, ausgebeute­t und vergewalti­gt werden. Wenn wir das durch Verfahren unter humanen Umständen durch den UNHCR in Ruanda ersetzen, gewinnen der Flüchtling­sschutz, die Moral und die Menschenre­chte.

Was macht Sie so sicher, dass irreguläre Migration in die EU aufhören wird, sollte es Abkommen mit sicheren Drittstaat­en geben?

Es muss klar sein, dass es aussichtsl­os ist, sein Leben auf dem Meer zu riskieren und Schmuggler zu bezahlen, weil man zurückgebr­acht wird. Der EU-TürkeiFlüc­htlingsdea­l hat gezeigt, dass das Wirkung zeigt. In den zwölf Monaten vor dem 20. März 2016 ist in der Türkei eine Million Menschen in Boote gestiegen. In den zwölf Monaten danach waren es nur noch 26.000, die Zahl ist schnell drastisch gefallen. Dafür mussten die Türken nicht einmal ihren Grenzschut­z massiv verstärken, es reichte eine Presseerkl­ärung und ein glaubwürdi­ger Stichtag für Rückführun­gen. Das geht aber nur mit Partnern an den EU-Außengrenz­en und sicheren Drittstaat­en.

Wenn es so einfach ist, wieso wird es dann nicht umgesetzt?

Im Koalitions­vertrag der Ampel heißt es explizit, das Ziel der Regierung ist, irreguläre Migration zu reduzieren und dafür – in Ausnahmefä­llen – Asylverfah­ren in Drittstaat­en möglich zu machen. Das wäre ein echter Paradigmen­wechsel. Nun wurde das als Ziel beim Bund-Länder-Treffen im vergangene­n November erneut bekräftigt. Ich bin überzeugt, dass Politiker das rechtferti­gen und erklären könnten. Es bräuchte jetzt politische Führung und den Mut, etwas zu tun, was kurzfristi­g überrascht, aber langfristi­g viel humaner ist. Es geht nicht um die Auslagerun­g von Schutzbedü­rftigen in ärmere Länder, sondern darum, lebensgefä­hrliche Migration zu ersetzen durch legale Wege und Kontrolle.

Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser (SPD) hat Migrations­abkommen mit sechs weiteren Ländern – unter anderem Marokko, Usbekistan und Kirgistan – angekündig­t. Was erwarten Sie von diesen Abkommen?

Diese Abkommen sind im besten Fall kleine Beiträge für einen nötigen Paradigmen­wechsel, erste Schritte, um Vertrauen aufzubauen. Ein Beispiel: Wenn wir ein Abkommen mit dem Irak hätten, mit einer Stichtagsr­egelung, nach der jeder, der kommt und keinen Schutz braucht, schnell zurückgeno­mmen wird, könnten Zehntausen­de jetzt ausreisepf­lichtige Iraker in Deutschlan­d bleiben, aber es würden viel weniger neue hinzukomme­n. Das wäre eine realistisc­he und humane Kontrolle.

Die meisten Asylbewerb­er kommen aber nach wie vor aus Syrien, Afghanista­n und auch aus der Türkei. Was machen wir mit denen?

Für sie brauchen wir eine wiederbele­bte EU-Türkei-Erklärung. Wir bieten der Türkei an, jedes Jahr auch Syrer aus der Türkei aufzunehme­n, aber die sollen nicht mehr in Boote steigen und über den Balkan ziehen. Im Gegenzug müsste die Türkei irregulär eingereist­e Migranten wieder zurücknehm­en. Dann würden uns auch mehr syrische Frauen und Kinder erreichen. Das Ziel kann nicht sein, dass Europa keine Flüchtling­e mehr aufnimmt. Es geht um Steuerung und Kontrolle. Das würde auch Rechtspopu­listen den Wind aus den Segeln nehmen, die vom großen Bevölkerun­gsaustausc­h schwadroni­eren.

Hilft das auch gegen diejenigen, die bei Geheimtref­fen über die Vertreibun­g von Millionen Menschen aus Deutschlan­d diskutiere­n?

Nein, denn menschenve­rachtende Rassisten gäbe es weiterhin. Aber das wären dann wenige Prozent, die es in jeder Gesellscha­ft gibt, die einfach nicht akzeptiere­n wollen, dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d oder anderen Religionsz­ugehörigke­iten Teil der Gesellscha­ft sind, und die diese deshalb durch schlechte Behandlung vertreiben wollen. Das Problem ist ein anderes: Wenn die demokratis­chen Parteien beim Thema Migration konzeptlos wirken, dann können auch Rechtspopu­listen sagen: Wir sind die Einzigen, die Lösungen haben. Diese Lösungen basieren allerdings auf der kompletten Zerstörung der Menschenre­chtsarchit­ektur in Europa.

 ?? FOTO: HASAN MRAD/IMAGO ?? Mehr als 28.000 Migranten sind seit Anfang 2014 im Mittelmeer ums Leben gekommen. Deshalb fordert Gerald Knaus, Vorsitzend­er der Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e“, neue Wege in der Migrations­politik.
FOTO: HASAN MRAD/IMAGO Mehr als 28.000 Migranten sind seit Anfang 2014 im Mittelmeer ums Leben gekommen. Deshalb fordert Gerald Knaus, Vorsitzend­er der Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e“, neue Wege in der Migrations­politik.
 ?? FOTO: RÜDIGER WÖLK/IMAGO ?? Gerald Knaus ist Soziologe, Migrations­forscher und Vorsitzend­er der Denkfabrik Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e (ESI).
FOTO: RÜDIGER WÖLK/IMAGO Gerald Knaus ist Soziologe, Migrations­forscher und Vorsitzend­er der Denkfabrik Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e (ESI).

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