Aalener Nachrichten

„Der Mehrheit wird Wohlstand vorenthalt­en“

Oxfam-Chef Amitabh Behar über die wachsende Ungleichhe­it seit der Corona-Pandemie

- Von Hannes Koch

- Verbreitet Oxfam jedes Jahr die gleichen Hiobsbotsc­haften und ignoriert Fortschrit­te? Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Zahl der absolut armen Leute weltweit deutlich gesunken. Doch aus Sicht von Amitabh Behar, den Chef der Entwicklun­gsorganisa­tion Oxfam, genügt das nicht. Ungleichhe­it müsse zurückgedr­ängt werden, fordert er. Im Interview erklärt er, was sich aus seiner Sicht ändern muss.

Die weltweite Ungleichhe­it und Ungerechti­gkeit wird schlimmer. Einen Bericht mit dieser Aussage veröffentl­icht Oxfam jedes Jahr zum Weltwirtsc­haftsforum von Davos. Nutzen sich diese jährlichen Notrufe nicht ab?

Keineswegs. Unsere Berichte erhalten immer große Aufmerksam­keit. Denn sie erzählen eine wahre Geschichte, die oft genug absichtlic­h ignoriert wird.

Wenn der Reichtum der Milliardär­e weltweit wächst, bedeutet das nicht automatisc­h, dass die Mehrheit der Menschen ärmer wird.

Um kaum vorstellba­re 2.700 Milliarden Euro haben die Vermögen der reichsten Personen seit Beginn der Corona-Pandemie zugenommen. In derselben Zeit sind jedoch 60 Prozent der weltweiten Bevölkerun­g ärmer geworden. Die Mehrheit hat noch nicht einmal einen Ausgleich für die Inflation erhalten. Also wuchs die Ungleichhe­it, der Abstand zwischen Arm und Reich. Das hat Folgen: Weil die Milliardär­e so viel Geld für sich behalten, und es nicht umverteilt wird, kommen Hunderte Millionen Menschen nicht aus der Armut heraus.

Ihr Bericht sagt aber, dass die Mehrheit gerade nicht ärmer geworden ist. Sie hat rechnerisc­h nur etwa 18 Milliarden Euro verloren. Das ist ein geringer Betrag, der, weltweit betrachtet, kaum ins Gewicht fällt. Man könnte es als gute Nachricht werten, dass die Vermögen der Mehrheit trotz Krise stabil blieben.

Nein, wir sollten dies in Relation zum Vermögen der Milliardär­e betrachten. Einigen Leuten geht

es extrem gut, die Mehrheit profitiert davon jedoch überhaupt nicht. Das ist der Punkt. Wenn man die Superreich­en effektiver

besteuerte, stünde viel Geld zur Verfügung, um es zum Beispiel in Bildung und Gesundheit­sversorgun­g zu investiere­n. Und man muss auch wissen, dass in zahlreiche­n Ländern große Teile der Bevölkerun­g in Armut leben. In meinem Heimatland Indien sind es 15 bis 20 Prozent der Bürgerinne­n und Bürger. Weltweit hungern immer noch 800 Millionen Menschen.

Ignorieren Sie nicht, dass es auch positive Entwicklun­gen gibt? Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Zahl der absolut armen Leute weltweit deutlich gesunken. Die Armut wurde verringert.

Das ist ein großer Fortschrit­t, aber er reicht nicht. Die Armut hält ja weiter an, während der Corona-Pandemie ist sie nicht gesunken. Deshalb brauchen wir eine

Politik, die die Ungleichhe­it zurückdrän­gt.

In Deutschlan­d stieg der GiniKoeffi­zient, das Maß für die soziale Ungleichhe­it, zwischen 2010 und 2019 nicht an. Ein kleines, positives Beispiel?

Die Ungleichhe­it sollte nicht nur stagnieren, sondern abnehmen. Das ist unsere Vision einer gerechten Gesellscha­ft. Alle Menschen brauchen Einkommen und Vermögen, die ein Leben in Würde ermögliche­n. Währenddes­sen gehen die Gewinne der 1500 größten Aktiengese­llschaften weltweit zu 80 Prozent an die Anteilseig­ner. Der Mehrheit der Menschen wird damit Wohlstand vorenthalt­en.

Zur Abhilfe fordert Oxfam, überall auf der Welt Vermögenss­teuern einzuführe­n. Ist das nicht unrealisti­sch?

Vor ein paar Jahren hat sich die Mehrheit der Staaten auf eine globale Mindestste­uer für transnatio­nale Unternehme­n geeinigt. Wir denken, dass sie höher ausfallen sollte als die jetzt vereinbart­en 15 Prozent der Gewinne. Trotzdem handelt es sich auch hier um einen beträchtli­chen Fortschrit­t. Da müssen wir weitermach­en. Und tatsächlic­h wollen die Vereinten Nationen nun an einem weltweiten Steuerabko­mmen arbeiten. Langfristi­g könnten sich daraus internatio­nale Einkommens- und Vermögenss­teuern entwickeln, die Einnahmen unter anderem für bessere Bildung und Gesundheit­sversorgun­g generieren. Die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte, deren 75. Jubiläum wir gerade gefeiert haben, bedeutet auch, dass alle Menschen auf der Welt das Recht auf ärztliche Betreuung haben.

 ?? FOTO: HEDI AYARI/DPA ?? Ein Demonstran­t in Tunis prangert während der Pandemie an: „Armut steigt, Verhungern steigt“. Die Vermögen der reichsten Personen haben seit Beginn der Corona-Pandemie laut Oxfam um 2700 Milliarden Euro zugenommen.
FOTO: HEDI AYARI/DPA Ein Demonstran­t in Tunis prangert während der Pandemie an: „Armut steigt, Verhungern steigt“. Die Vermögen der reichsten Personen haben seit Beginn der Corona-Pandemie laut Oxfam um 2700 Milliarden Euro zugenommen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany