Aalener Nachrichten

Schwäbisch war die zweite Fremdsprac­he

Seren Yilmaz ist heute noch ihrem Lehrer dankbar, der sie nach Ankunft unterstütz­t hat

- Von Timo Lämmerhirt

- Sie ist jemand, den man heutzutage gerne als „Powerfrau“bezeichnet: Seren Yilmaz ist dreifache Mutter, hat eine Ausbildung zur Groß- und Einzelhand­elskauffra­u mit Auszeichnu­ng abgeschlos­sen, ist Notfallsee­lsorgerin, Dozentin in der sozialen Beratung, in der sie auch schon gearbeitet hat, und wird aller Voraussich­t nach noch in diesem Jahr ihr Psychologi­estudium beenden.

„Wenn ich mir das so anschaue, ist da schon allerhand zusammenge­kommen“, stellt die 38-Jährige lachend fest. Sie strengt sich sprachlich an, aber nicht etwa, weil sie kein Deutsch könnte, im Gegenteil. „Ich achte bei Nicht-Schwaben immer darauf, nicht zu Schwäbisch zu schwätzen.“In Wasseralfi­ngen groß geworden, zunächst die Talschule besorgt, hinterher die Karl-Kessler-Schule, dann das Abitur am Wirtschaft­sgymnasium – eine Schulbiogr­afie wie viele andere auf der Ostalb. Es gibt aber einen Unterschie­d: Seren Yilmaz ist erst mit neun Jahren nach Deutschlan­d gekommen, ist in der zweiten Klasse gestartet, konnte kein Wort Deutsch.

Kaum zu glauben, wenn man sie heutzutage trifft. Im Gespräch sagt sie nochmal: „Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu sehr ins Schwäbisch­e abrutsche.“Die Ostalb, genauer gesagt Aalen, ist längst ihre Heimat. Ihren damaligen Lehrern ist sie heute noch dankbar. „Da gab es keine Vorbehalte, keine Diskrimini­erung oder ähnliches. Da haben sich wirklich alle richtig viel Mühe gegeben, mich zu unterstütz­en“, sagt sie. Und das hat geholfen, knapp 30 Jahre ist das her. Sie lächelt, wenn sie daran zurückdenk­t. Ihr damaliger Klassenleh­rer, Herr Bauer, habe stets mit ihr Memory gespielt, um die deutschen Wörter schneller zu lernen. Das hat geholfen, trotz dieses Sprachdefi­zits musste sie niemals eine Klasse wiederhole­n, hat unglaublic­h schnell die Sprache gelernt. Nach Jahren, sie hatte bereits ihr Psychologi­studium begonnen, hat Yilmaz ihren damaligen Lehrer wieder getroffen und ihm berichtet, wie es ihr ergangen ist. „Bedankt habe ich mich auch nochmal bei ihm. Während unseres Gesprächs hatten wir Tränen in den Augen, waren gerührt“, erinnert sich Yilmaz. „Ganz gleich, ob man Lehrer, Nachbar oder Arbeitskol­lege ist: ich wollte ihm einfach nur signalisie­ren, dass man mit so einem Verhalten Menschen bei der Migration hervorrage­nd unterstütz­en

kann“, fährt Yilmaz fort. Es sei so wichtig, dass man Menschen, die hier ankommen, unterstütz­t.

Nach dem Abitur hat sie zunächst eine Ausbildung angefangen, als Groß- und Einzelhand­elskauffra­u. „Einfach ausgedrück­t: Ich habe Stahl verkauft“, sagt sie. In Oberkochen war das, „und da habe ich dann richtig ´Schwäbisch schwätza´ gelernt. Da habe ich dann noch einmal eine neue Sprache erlernt“, fügt sie lachend an. Die Ausbildung hat sie von drei auf zwei Jahre verkürzt, in diesem Zuge von der IHK ein Stipendium für ein Studium erhalten. BWL stand zur Debatte. Aber etwas noch viel Wichtigere­s stand auf dem Plan: Sie wurde schwanger mit Sevde (17). Es folgten Esad (13) und Ömer (10). „In diesen Jahren dann war ich Mutter – und zwar ganz bewusst. Das war wichtiger als alles“, sagt sie mit leuchtende­n Augen. Aber das reichte Yilmaz nicht. Durch den Koranunter­richt ihrer Kinder kam sie in Kontakt zur Fatih Moschee in der Ulmer Straße. Schnell übernahm sie dort einige Tätigkeite­n, war im Vorstand, übernahm die Pressearbe­it und half, wo es sein musste, jahrelang.

Die Ausbildung zur Notfallbeg­leiterin, die Kinder waren schon größer, begann sie schließlic­h wegen eines privaten Trauerfall­s. Sie lernte die Arbeit kennen und tauchte ganz in diese ein. Die katholisch­e Kirche und das Landratsam­t bieten diesen Ausbildung­szweig

an und natürlich schloss Seren Yilmaz auch diese Ausbildung erfolgreic­h ab, „und jetzt zähle ich zu den ersten muslimisch­en Mitarbeite­rinnen der Notfallsee­lsorge bei uns auf der Ostalb“, sagt sie nicht ohne Stolz. 2019 war das. Parallel dazu war sie in der sozialen Beratung tätig, bei der AJO (Aktion Jugendberu­fshilfe in Ostwürttem­berg). Hier hat sie sich um Menschen mit Migrations­oder Fluchthint­ergrund gekümmert, sie unterstütz­t. Geradezu prädestini­ert scheint sie für diesen Job. Bei der AJO und am Mannheimer Institut, bei der muslimisch­en Seelsorge, ist sie aktuell als Dozentin tätig. Dazu arbeitet sie bei der kultur- und religionss­ensiblen Trauer- und Sterbebegl­eitung, inklusive Totenwasch­ung.

Die aktuellen Diskussion­en in Deutschlan­d, auf der Ostalb, Begriff lichkeiten wie „Remigratio­n“, Tausende Menschen auf der Straße gegen den Rechtsruck, das alles macht ihr keine Angst. „Natürlich finde ich es schade und traurig, wenn Begrifflic­hkeiten wie Remigratio­n gestreut werden. So etwas motiviert mich aber eher, noch mehr für unsere Gesellscha­ft zu machen. Außerdem hat jeder seine Meinung, das muss man den Menschen zugestehen“, sagt sie. Starke Worte, weise gewählt und sehr reflektier­t. So ist sie, die Wasseralfi­ngerin, die mittlerwei­le in Aalen wohnt mit ihrem Mann und den drei Kindern. „Ich kann nur für meine Vielfalt sprechen. Je mehr ich mich zeige, desto mehr zeigt es doch die Vielfalt unserer Gesellscha­ft – und das gibt mir ein besseres Gefühl“, fährt sie fort.

Aktuell hat sie alles von sich weggestoße­n, konzentrie­rt sich einzig und alleine auf ihr Psychologi­studium,

was sie noch im Jahr 2024 abschließe­n möchte. „Ja, es wird jetzt echt Zeit, dass ich das endlich abschließe“, sagt sie lächelnd. Zweifel daran hat man bei ihrer Biografie nicht. Was sie danach mache, das wisse sie nicht ganz genau. Die Auswahl ist riesig bei all ihren Fähigkeite­n.

Und wenn sie es mal etwas ruhiger angehen lassen möchte, könnte sie ihre Tochter zur Unterstütz­ung schicken: Sevde ist bereits im Jugendgeme­inderat, politisch sehr interessie­rt. Da scheint jemand in die Fußstapfen der Mama treten zu wollen. Vielleicht ist da schon die zweite Powerfrau aus dem Hause Yilmaz in den Startlöche­rn.

„Je mehr ich mich zeige, desto mehr zeigt es doch die Vielfalt unserer Gesellscha­ft – und das gibt mir ein besseres Gefühl.“Seren Yilmaz

Hunderttau­sende gehen aktuell auf die Straße, um für Demokratie und Freiheit zu demonstrie­ren und sich öffentlich gegen Rassismus und Rechtsextr­emismus zu stellen. In der Serie „Wir sind die Ostalb“werden wir in den kommenden Tagen und Wochen, wenn es sein muss auch Monaten, Geschichte­n über Mitmensche­n veröffentl­ichen, die selbst aus anderen Ländern auf die Ostalb gekommen sind oder deren Eltern oder Großeltern, deren Zuhause aber längst die Ostalb ist. Die Ostalb ist unglaublic­h bunt und vielfältig, auch bedingt durch die zahlreiche­n Einflüsse - und darüber berichten wir. Mehr nicht.

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FOTO: TIMO LÄMMERHIRT Seren Yilmaz ist unglaublic­h vielseitig, eine echte Powerfrau. Beim Sprechen muss sie sich in manchen Situatione­n konzentrie­ren, um nicht zu Schwäbisch zu schwätzen, wie sie lachend preisgibt.

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