Stehaufmännchen der US-Politik
Von wegen schläfriger Joe! US-Präsident Biden lieferte in seiner mit Spannung erwarteten Rede zur Lage der Nation das, was die Amerikaner einen „barn burner“nennen. Mit feuriger Leidenschaft bewarb er sich im US-Kongress für eine zweite Amtszeit im Weißen Haus. Selbst Donald Trump fiel anschließend nicht viel mehr ein, als das gelegentliche Räuspern des Amtsinhabers zu kritisieren. Angriffslustig nutzte Biden die von allen großen TV-Kanälen live übertragene Ansprache dazu, Zweifel an seiner Fitness aus der Welt zu räumen. Mit 81 Jahren mag er alt sein, aber er demonstrierte, dass sein Geist jung geblieben ist.
Biden schaffte es, einen klaren Kontrast zwischen seiner Vision für Amerika aufzuzeigen und der des Mannes, den er 13-mal als „mein Vorgänger“erwähnte, ohne seinen Namen auszusprechen. Wobei er geschickt daran erinnerte, dass Trump fast genauso alt ist wie er, aber für eine reaktionäre Politik stehe. Während er aus seiner Lebenserfahrung gelernt habe, wie wertvoll Demokratie, Freiheit und Menschenrechte sind.
Die Gegensätze zogen sich wie ein roter Faden durch die Rede. Außenpolitisch legte er am Tag der offiziellen Nato-Erweiterung um Schweden ein Bekenntnis zum westlichen Bündnis ab und demonstrierte im Nahen Osten den Führungsanspruch – mit der Ankündigung eines provisorischen Hafens für Gaza-Hilfen.
Weniger überzeugend blieb Biden bei dem Versuch, die hartnäckige Inflation bei Lebensmitteln und Energie in eine Erfolgsgeschichte eines wirtschaftlichen Comebacks umzudeuten. Vor allem blieb er eine Antwort auf die Frage schuldig, wie er das tief gespaltene Land zusammenbringen will. Die Lage der Nation bleibt gekennzeichnet von Unzufriedenheit, Ungewissheit und gesellschaftlicher Unruhe. Dass Bidens Rede daran etwas geändert hat, darf bezweifelt werden. Aber der Präsident hat bewiesen, dass mit ihm gerechnet werden muss. Joe Biden ist das ultimative Stehaufmännchen der US-Politik.