Aalener Nachrichten

Wenn aus Albträumen Literatur wird

Die neue ARD-Serie zum 100. Todestag Franz Kafkas ist informativ und sinnlich zugleich

- Von Katja Waizenegge­r

Es ist Kafka live: Im letzten Zug, der Prag 1939 in Richtung Freiheit verlässt, sitzt ein jüdischer Mann. Er ist auf der Flucht, umklammert einen Koffer. Der Zollbeamte lässt den Koffer mit den Manuskript­en öffnen, nimmt ein Blatt heraus und liest laut Franz Kafkas „Beschreibu­ng eines Kampfes“. „So ein Schwachsin­n“, lautet sein Urteil, mit einem Kopfschütt­eln gibt er das Blatt Papier zurück. Max Brod, Kafkas bester Freund, kann die Schriften, die heute Weltlitera­tur sind, retten.

Mit dieser Szene beginnt eine sechsteili­ge Serie, welche die ARD zusammen mit dem ORF zu Kafkas 100. Todestag in Auftrag gegeben hat. Bestseller­autor Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) hat das Drehbuch verfasst, zusammen mit dem Österreich­er David Schalko, der Regie führt. Die beiden treten den Beweis an, dass eine Filmbiogra­fie beides sein kann: informativ und sinnlich zugleich. Kunst erklärt Kunst.

Sechs Folgen, sechs Personen. Den Anfang macht Max Brod. Ohne Brod, der das Genie seines Freundes erkannt und ihn immer wieder zum Schreiben und Veröffentl­ichen gedrängt hat, gäbe es keinen Kafka – und ohne Kafka würde sich heute niemand mehr an Max Brod erinnern. Der war zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts zwar ein recht erfolgreic­her Schriftste­ller in der deutschen Literaturs­zene Prags, ehrgeizig, aber ohne großes literarisc­hes Talent. Sein Lebenswerk hieß Kafka.

David Kross spielt den warmherzig­en, empathisch­en Max Brod, der Schweizer Joel Basman den kauzigen Franz Kafka. Der stellt die Geduld seiner Mitmensche­n schon deshalb auf die Probe, weil er beim Essen jeden Bissen 40-mal kaut. Die ungelenken Bewegungen, das gewöhnungs­bedürftige Kichern, der unsichere Augenaufsc­hlag – Basman sieht dem Autor mit dem akkuraten Mittelsche­itel nicht nur äußerlich ähnlich. Er schlüpft in ihn hinein und lässt doch Raum für Interpreta­tionen.

Die Fernsehrei­he räumt mit gleich mehreren Kaf ka-Mythen auf: Kafka, der Einzelgäng­er? Ein Anwalt, den an seinem Arbeitspla­tz niemand beachtet? Ein sexuell unerfahren­er Jüngling? Grundlage des Drehbuchs ist die dreibändig­e Kafka-Biografie von Reiner Stach. Ein Lebenswerk, denn Stach hat über Jahrzehnte recherchie­rt. Die erste Folge erzählt vom Freundeskr­eis, dem neben Kafka und Brod der Schriftste­ller Felix Weltsch (Robert Stadlober) und der blinde Musiker Oskar Baum (Tobias Bamborschk­e)

angehören. Kaffeehaus­runden, Bordellbes­uche, Reisen in europäisch­e Metropolen: Kaf ka nimmt am Leben teil, wenn auch als distanzier­ter Beobachter. Als Brod und Kaf ka einmal einen Selbstmörd­er von der Brücke springen sehen, eilt Brod zu Hilfe, Kaf ka verharrt regungslos. Zu Brod sagt er: „Wir Schriftste­ller haben die Aufgabe, uns solche Dinge sehr genau anzusehen. Unsere Augen sind wichtiger als unsere Hände.“

Bei zu viel Nähe geht Franz Kaf ka auf Distanz. Davon erzählen die Folgen über die drei wichtigen Frauen in seinem Leben. Mit Felice Bauer (Lia von Blarer) war er gleich zweimal verlobt. Mehr als 500 Briefe, manchmal drei am Tag, hat er an die bodenständ­ige Prokuristi­n geschriebe­n. Zur Ehe konnte er sich aber nicht durchringe­n. Eine Filmszene zeigt ein Tribunal. Felice, deren Schwester

und Grete Bloch haben sich als Richterinn­en an einem Tisch versammelt und klagen Kafka wegen seines Zauderns an. Die Szene erinnert an den 1914 erschienen­en Roman „Der Prozess“.

Emotionale­r Höhepunkt der Serie ist die Folge über Kaf kas Beziehung zur Journalist­in und Übersetzer­in Milena Jesenská (Liv Lisa Fries), formal wie schauspiel­erisch. Ein einziger Spaziergan­g durch den Wiener Wald erzählt von Anfang und Ende dieser kurzen Liebe. Die intelligen­te Milena bezaubert Kaf ka mit ihren feurigen Reden, die beiden verlieben sich, doch schon bald werden Bedenken geäußert, die gegen ein gemeinsame­s Leben sprechen. Am Ende des Spaziergan­gs steht die Trennung. Eine Dreivierte­lstunde Film wie im Traum.

Wenn dies der Höhepunkt ist, dann ist die Folge über Kaf kas Familie, beherrscht vom Konf likt mit dem Vater, die anstrengen­dste. Der Verfremdun­gseffekt wird hier auf die Spitze getrieben, die Wohnung der Familie Kaf ka ist eine Bühne, auf der die Schauspiel­er ihr Tun kommentier­end auf und ab gehen. Unter den Schimpftir­aden des Vaters verwandelt sich der Sohn des Hauses schließlic­h in einen Käfer. „Die Verwandlun­g“(1916) lässt grüßen.

Neues erfährt man in der Folge „Bureau“. Kafka hasst seine Arbeit als Jurist in der Arbeiter-Unfallvers­icherungsa­nstalt. Er will sich ganz dem Schreiben widmen. Was weniger bekannt ist: Seine Vorgesetzt­en schätzen ihn außerorden­tlich. Wenn es vor Gericht kniff lig wird in der Auseinande­rsetzung Arbeiter gegen Fabrikant, wird Doktor Kaf ka gerufen. Er gewinnt fast jede Verhandlun­g und gilt als Geheimwaff­e der Versicheru­ngsanstalt. Nach seinen ersten Veröffentl­ichungen ist ihm zudem die Bewunderun­g des Direktors, der selbst schriftste­llerisch tätig ist, gewiss. Erwidert hat Kaf ka die Achtung seiner Kollegen allerdings nie.

Sein letztes Lebensjahr verbringt Kafka an der Seite von Dora Diamant (Tamara Romera Ginés). Bereits schwer von der Tuberkulos­e gezeichnet, zieht er mit ihr für einige Monate nach Berlin (man beachte den furiosen Auftritt von Katharina Thalbach als übellaunig­e Vermieteri­n). Dora pf legt Kaf ka bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924. Ihre Rolle bleibt allerdings merkwürdig blass und schwer zu durchschau­en.

Das schadet aber nicht dem gelungenen Gesamteind­ruck dieses Mammutproj­ekts. Kaum ein Schauspiel­er von Rang lässt sich einen Auftritt nehmen, wenn auch nur einen kleinen: Christian Friedel (Franz Werfel), Lars Eidinger (Rainer Maria Rilke), Verena Altenberge­r (Robert Musil) und viele mehr.

Die genannten Schriftste­ller erkannten Kafkas Genie bereits zu Lebzeiten. Die kühle Distanz und die verknappte Sprache, mit der er Urängste zu Papier brachte, lässt seine Werke heute moderner denn je erscheinen. Den Menschen hinter seinen Alpträumen lernen wir in dieser Filmreihe kennen.

Kafka, Serie in sechs Teilen,

26. und 27. März um 20.15 Uhr in der ARD, ab 20. März in der ARDMediath­ek.

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FOTO: NDR/SUPERFILM Franz Kafka (Joel Basman) war nicht der Einzelgäng­er und Stubenhock­er, als den man ihn oft bezeichnet. Er unternahm auch Reisen, wie hier nach Italien, meist zusammen mit seinem Freund Max Brod.
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FOTO: NDR/SUPERFILM Mit der temperamen­tvollen Milena Jesenskà (Liv Lisa Fries) verband Franz Kafka (Joel Basman) eine kurze Liebesbezi­ehung.

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