Russlands demolierte Wirklichkeit
Nach dem Blutbad bei Moskau mischen sich vor dem zertrümmerten Konzertsaal Schmerz und Propagandaparolen
- Der Mann hat graue Haare, trägt eine hellblaue Sportweste und möchte nicht reden. Seine weißblonde Frau hat ihre Handtasche quer über ihre schwarze Daunenjacke gehängt. Sie seien zum Trauern hier, sagt sie abweisend kurz. Ein Arbeitskollege sei hier getötet worden. Wer schuld sei? „Die Ukraine.“Und die Regierung werde schon wissen, was jetzt zu tun ist.
Vor dem Absperrgitter neben den beiden häuft sich ein Berg frischer Rosen- und Nelkensträuße, Teddybären und Stoff hasen kauern auf dem Asphalt, eine weiß-schwarze Luftballontraube schaukelt darüber. Zwischen den Blumen lehnen gerahmte Holztäfelchen: „Karelien trauert“und „Möge gerechter Zorn aufflammen. Es herrscht Volkskrieg, heiliger Krieg.“Pathos aus dem Zweiten Weltkrieg.
Um den Blumenhügel drängen sich TV-Kameraleute, aber noch mehr Trauernde, immer neue Menschen mit roten Nelken kommen von der U-Bahn. Moskau trauert um die 137 Opfer des Blutbades vom Freitagabend. Im Konzertsaal Crocus City Hall hatte ein Killerkommando mit Sturmgewehren über 6000 Besucher eines Popkonzerts unter Feuer genommen und dann das Gebäude in Brand gesteckt.
Aus einem Lautsprecher ertönt der Betgesang eines Popen, vermischt sich mit dem nahen Motorenrauschen der Moskauer Ringautobahn, über der ein Hubschrauber pendelt. Ein rotbärtiger Hüne, der eine graue Kapuze trägt, hält sich etwas abseits, er starrt ins Leere, fängt leise an zu weinen. Hier stehen Dutzende Menschen mit vor Leid starren Gesichtern, hier hat sich viel Schmerz versammelt.
Der zerstörte Konzertsaal selbst ist abgesperrt, auf dem Parkplatz davor warten Dutzende Kipplaster und ein Schlepper mit einem Bagger, die Aufräumarbeiten sind noch im vollen Gang. Zwei schwarz uniformierte
Katastrophenschützer machen Frühstückspause, neben ihnen liegt ein großer, roter Trennschneider.
Die Plexiglas-Fassaden der Crocus City Hall sind zum Teil geplatzt, dahinter klaffen rostrote Innereien. Das Dach ist eingestürzt, die Trümmerschlucht darunter von hier nicht zu sehen. Aber sie wirkt, als hätte ein Riese in den Konzertsaal hineingetreten. Russlands Wirklichkeit ist jetzt ähnlich demoliert.
Es scheint unwirklich, dass angeblich nur vier Terroristen hier so viele Tote und Trümmer hinterlassen haben. So unwirklich wie die Videos der gefassten Täter, wo die Killer kläglich zittern. Regimekritiker
bezweifelten zunächst, dass die festgenommenen Tadschiken dieselben Männer seien wie in der Konzerthalle. Aber das oppositionelle Portal Waschnije Istorii fand zahlreiche Details ihrer Kleidung auf einem Video des „Islamischen Staates“(IS) wieder, das zeigt, wie sie eifrig Menschen erschießen, Kehlen durchschneiden und islamistische Parolen schreien. Die Hinweise verdichten sich, dass der terroristische IS hinter dem Attentat steht.
Die Wirklichkeit eskaliert grausam, Überlebende erzählten Radio Kommersant FM, die Mörder hätten Menschen mit Brennf lüssigkeit übergossen und bei lebendigem Leibe angezündet. Die russischen Sicherheitsdienstler aber, die die Tadschiken
fingen, stellten unter anderem ein Video ins Internet, das zeigt, wie sie einem ein Ohr abschneiden und es ihm in den Mund stopfen.
Sicherheitskräfte veranstalten demonstrativ Folter, die Staatspartei Einiges Russland diskutiert die Rückkehr zur Todesstrafe. „Das Regime“, sagt der Exilblogger Pawel Kanygin, „will politisch Kapital aus diesem Verbrechen schlagen.“
Auf jeden Fall presst die staatliche Propaganda den Terrorakt in ihr aktuelles Narrativ, hinter allem Bösen stünden der Kriegsgegner Ukraine und seine westlichen Hintermänner. Zumindest auf den ersten Blick scheint der Terrorakt in den sich aufschaukelnden Abtausch
von Kommandounternehmen, Raketen- und Drohnenschlägen zu passen, zuletzt gegen Kiew, Charkiw und Lemberg einerseits, Sewastopol und Kuibyschew andererseits. Russische Raffinerien brennen und ukrainische Stromwerke, Polen hat seine Luftwaffe nach dem Auftauchen einer russischen Rakete in seinem Luftraum aktiviert. Der Konflikt bewegt sich langsam Richtung Unkontrollierbarkeit.
An der Gedenkstätte wimmelt es jetzt von bunten Uniformanoraks, grau die „Volksfront“, blau und weiß die „Junge Garde“. „Ich bin hier, weil das mein Vaterland ist“, sagt eine stattliche Mittvierzigerin in Zivil. Die Schuldigen für das Blutbad
säßen in der Ukraine, den USA und in Großbritannien. „Unsere Politik muss härter werden“, erklärt sie. „Und alle müssen Dank sagen, dass wir einen so gütigen Präsidenten haben.“
Wladimir Putin selbst erklärte, die f lüchtigen Täter seien auf dem Weg in die Ukraine gefasst worden. „Wo nach den ersten Angaben die ukrainische Seite ein Fenster für ihren Grenzübergang vorbereitet hat.“Vor der Crocus City Hall mag heute niemand diskutieren, wie dieses Fenster aussah, an einer Grenze, die längst verminte Kriegsfront ist.
Manche Leute schweigen, andere geben sich diplomatisch. „Es ist unsere Bürgerpflicht, den Mitbürgern in dieser schweren Stunde beizustehen“, sagt Artjom, Träger eines silbernen Piratenohrrings. Die Kriegsbegeisterung der Bevölkerung lässt zu wünschen übrig, nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums waren im Februar nur noch 39 Prozent der Russen für eine Fortsetzung der „Kriegsspezialoperation“. Die Kreml-PR hat allen Grund, der feindlichen Ukraine auch das Blut und die Tränen vom Freitagabend in die Schuhe zu schieben.
Jenseits der Kipplaster steht ein einsames junges Paar und starrt auf die aufgerissene Fassade der Crocus City Hall. Das Mädchen erzählt, der Dozent einer Bekannten sei hier umgekommen. Wer hinter dem Anschlag steckt? „Sie kennen ja die Version der Behörden“, es klingt unfroh. Ob verschärfte Gesetze helfen? „Nein, dann bekommen bestimmte Leute bei uns nur noch mehr freie Hand.“
„Wissen Sie, ich spiele in einer Rockband, wir machen Musik im Stil von Rammstein“, ihr Begleiter lächelt plötzlich. „Wir sind auch in Deutschland aufgetreten, bei Weimar.“Aber das sei lange vor dem Krieg gewesen. Sie hätten wieder eine Einladung, aber jetzt sei die Reise zu teuer. „Die Organisatoren sagen, wir sollten warten, bis sich alles wieder normalisiert.“