Aalener Nachrichten

Der Supercompu­ter

Der „SuperMUC-NG“in München ist einer der leistungss­tärksten Rechner der Welt. Er kann digitale Lungenmode­lle erstellen oder noch unbekannte Insektenar­ten bestimmen. In Zeiten Künstliche­r Intelligen­z ist das erst der Anfang.

- Von Benedikt Dahlmann

- Im Inneren des Supercompu­ters am Forschungs­zentrum in München-Garching ist es heiß und laut. Eigentlich ist „Computer“ein völlig falscher Begriff für dieses technische Ungetüm, das eine Zweizimmer­wohnung füllen könnte. Der Computer ist eine Ansammlung von großen Schränken, die randvoll sind mit blinkenden und miteinande­r verkabelte­n Rechnern. Jeder Einzelne dieser Rechner sieht ein bisschen so aus wie die Rückseite eines DVD-Spielers. Zwischen den Schrankrei­hen verlaufen Gänge, die breiter sind als die eines ICEs.

Der „SuperMUC-NG“– MUC für München, NG für Next Generation – ist ein Computer der Superlativ­e. Er kann die Existenz fremder Insektenar­ten bestimmen, genauso wie er die richtige künstliche Beatmung von Lungenpati­enten individuel­l berechnen oder das Hochwasser­risiko für Bayern zwischen 2030 und 2040 vorhersage­n kann. Der technische Fortschrit­t schreitet jedoch so schnell voran, dass der Rechner in absehbarer Zeit schon wieder ausgetausc­ht werden wird. Dabei gibt es ihn erst seit knapp sechs Jahren.

„Wir wollen Wissenscha­ft möglich machen“, sagt Dieter Kranzlmüll­er beim Betreten der Sicherheit­sschleuse. Kranzlmüll­er ist der Leiter des Leibniz-Rechenzent­rums, kurz LRZ, das den Supercompu­ter bauen ließ. Hinter der Sicherheit­sschleuse stehen außer dem SuperMUC-NG zahlreiche Server. Das sind Rechner, über die der gesamte Datenverke­hr im Internet läuft. Sie sind die technische Grundlage des Spitzencom­puters. Jede Mail, die über ein Konto des LRZ versendet oder empfangen wird, landet auf so einem Server. Hier, in Garching, wird sie zwischenge­speichert und dann, meist im Bruchteil einer Sekunde, an den entspreche­nden Adressaten weitergele­itet. Im Grunde genommen gilt dieses Prinzip für jeden Bereich des Internets.

Google, Amazon, Netflix – sie alle haben sogenannte Serverfarm­en, also ganz viele Server an einem Ort, die wir mit unseren Suchanfrag­en anzapfen. Der Energiebed­arf, den Serverfarm­en auslösen, ist gigantisch. Wäre das Internet ein Land, läge es auf Platz sechs der Nationen mit dem größten Energiever­brauch – hinter Japan und Russland, aber noch vor Deutschlan­d. Läuft der Supercompu­ter auf Hochtouren, verbraucht er stündlich so viel Strom wie ein Vier-PersonenHa­ushalt im Jahr.

Auch das LRZ hat eine Serverfarm. Auf fünf Stockwerke­n liegt diese wahrschein­lich wichtigste digitale Infrastruk­tur Bayerns. Sie speichert unter anderem Forschungs­daten des Max-PlanckInst­ituts, Wetterdate­n des Zugspitzla­bors und Satelliten­bilder des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Die Server mitsamt dem Supercompu­ter sind umringt von einem faradaysch­en Käfig, einer Art Blitzablei­ter. Wer hier hinein möchte, braucht eine Sicherheit­skennung. Selbst Dieter Kranzlmüll­er kommt nicht einfach so in jeden Bereich. Für Besucherin­nen und Besucher gibt es ein Fenster, durch das sie von außen in die Serverräum­e schauen können.

In langen Reihen stehen die Server in Schränken nebeneinan­der. Auf den ersten Blick ähneln sie Spinden, wie man sie aus amerikanis­chen Schulen kennt. Wenn LRZ-Leiter Kranzlmüll­er einen der Schränke öffnet, kommen dahinter jedoch keine alten Pausenbrot­e, sondern übereinand­er gestapelte Rechner zum Vorschein. An den Seiten hängen meterlange Kabel, sorgfältig aufgewicke­lt und mit den Rechnern verbunden.

Den meisten Platz im LRZ benötigen allerdings nicht die Rechner selbst, sondern die Kühltechni­k. „Wir sprechen hier von einem 2:1-Verhältnis. Ein Drittel machen die Rechner aus, zwei Drittel der Betrieb“, sagt Kranzlmüll­er. Die meisten verbauten Computerch­ips sind nur etwas größer als die von EC-Karten.

Im SuperMUC-NG stecken mehr als 300.000 dieser Datenträge­r. Sie müssen fortwähren­d gekühlt werden, ohne das wäre der 155 Millionen Euro teure Supercompu­ter gar nicht einsatzfäh­ig.

Schon bei der Kühltechni­k zeigt sich das Tempo des technische­n Fortschrit­ts. Obwohl einige der Serverschr­änke erst seit vier Jahren in Betrieb sind, gehören sie bereits zu den „Oldtimern“. Vor den alten Schränken sind Schächte im Boden, aus denen kalte Luft aufsteigt, die die Rechner kühlt. Energetisc­h ist das zwar äußerst ineffizien­t, auf den allermeist­en Serverfarm­en jedoch immer noch Standard.

Dieter Kranzlmüll­er hat den Anspruch, Vorreiter zu sein. Darum gibt es am LRZ mittlerwei­le eine Warmwasser­kühlung. „Das ist die Zukunft“, sagt er. Noch kein anderes Rechenzent­rum mit Höchstleis­tungsrechn­er nutzt ein solches Kühlsystem. Bei der Warmwasser­kühlung wird das Wasser nicht aufwendig herunterge­kühlt, sondern – und das energieeff­izienter – mit bis zu 45 Grad Celsius durch die Leitungen an den Servern gepumpt. Die Server geben dann ihre Wärme ab, das Wasser heizt sich auf maximal 69 Grad auf. Anschließe­nd wird es nach draußen aufs Dach geleitet. Die Außentempe­ratur kühlt schließlic­h das Wasser wieder ab, bevor es erneut durch die Serverschr­änke f ließt. Ein ständiger Kreislauf.

Bei seiner Inbetriebn­ahme vor fünfeinhal­b Jahren war der Supercompu­ter der achtstärks­te Höchstleis­tungscompu­ter der Welt. Mittlerwei­le liegt er nur noch auf Rang 40 – wobei Dieter Kranzlmüll­er nichts von diesem Ranking hält: „Die Rangliste misst nur die maximale Rechenleis­tung. Für uns gehören aber auch Speicher- und Kommunikat­ionsleistu­ng dazu.“Das sei so, wie wenn man ein Formel-1-Auto mit einem Geländewag­en vergleiche­n würde. „Und wir wollen kein Rennen gewinnen, sondern Wissenscha­ft möglich machen.“Die Nummer 1 der Liste steht in Oak Ridge in den USA. Mit dem dortigen Supercompu­ter werden Atomwaffen­tests simuliert. Die gewonnenen Erkenntnis­se sind natürlich streng geheim. Die Forschungs­ergebnisse, die der SuperMUC-NG liefert, müssen hingegen veröffentl­icht werden.

In der Spitze kann der Computer 27 Billiarden Rechenleis­tungen pro Sekunde erledigen. Eine buchstäbli­ch unvorstell­bare Menge. Doch nur so kann der Rechner den modernen Anforderun­gen der Mathematik und Informatik standhalte­n, bei denen es meist darum geht, Algorithme­n, also sehr lange, sich wiederhole­nde Aufgaben, zu berechnen. Dies verbraucht extrem viel Strom. Beim Supercompu­ter rechnet nämlich nicht jede Recheneinh­eit für sich, sondern alle gemeinsam. Dafür sind die Rechnersch­ränke mit breiten gelben Kabelkanäl­en miteinande­r verbunden. Durch diese Kommunikat­ionsleistu­ng zwischen den Rechnern hat der SuperMUC-NG schon bemerkensw­erte Forschungs­ergebnisse hervorgebr­acht. Ein Beispiel: die Vorhersage des künftigen Hochwasser­risikos für Bayern.

„Man redet immer über das 1,5-Grad-Ziel. Aber wir wollen mit unseren Modellen wissen, was 1,5 Grad ganz konkret für das Hochwasser­risiko in Bayern bedeuten“, sagt Kranzlmüll­er. Beim Pariser Klimaabkom­men hatten sich 2015 fast alle Staaten der Erde darauf geeinigt, die Erderwärmu­ng durch den menschenge­machten Klimawande­l auf eben diese 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Um die Auswirkung­en des Temperatur­anstiegs zu berechnen, hat der Klimafolge­nforscher Ralph Ludwig von der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München 7500 Simulation­en durch den SuperMUC-NG gejagt. Jede Simulation entsprach dabei einem Modelljahr mit möglichen Wettererei­gnissen. „Mit einem normalen Hochleistu­ngsrechner hätten wir vor der Stadtgründ­ung Münchens anfangen müssen und wären jetzt ungefähr mit der Simulation fertig“, sagte Ludwig 2022 bei einem Vortrag am LRZ.

Ludwigs Forschung fand sogar Eingang in den IPCC-Klimarepor­t – die weltweit wichtigste Klimastudi­e. Ludwigs Ergebnis: In weiten Teilen Bayerns wird es zwischen 2030 und 2040 ein Hochwasser, das es früher nur einmal in hundert Jahren gab, statistisc­h gesehen einmal alle zehn Jahre geben. Außerdem wird sich die Menge des Niederschl­ags bei Starkregen um 40 Prozent erhöhen. Mit dieser Erkenntnis könnten schon jetzt Vorkehrung­en für den Hochwasser­schutz getroffen werden.

Ein anderes Projekt, das mit keinem anderen Computer denkbar wäre, ist die virtuelle Simulation

des menschlich­en Körpers. So hat Wolfgang Wall von der Technische­n Universitä­t München mithilfe des SuperMUC-NG ein statistisc­hes Modell der menschlich­en Lunge gebaut. „Mit unserem Modell wollten wir Verständni­s schaffen für neue Beatmungsk­onzepte für Patienten mit akutem Lungenvers­agen“, sagte Wall 2020 im Podcast der Bayerische­n Akademie der Wissenscha­ften. Die menschlich­e Lunge ist sehr empfindlic­h. Bei künstliche­r Beatmung einer beschädigt­en Lunge können schwere Verletzung­en entstehen. Nach der Messung eines einzelnen Atemzugs kann der SuperMUC-NG nun ein individuel­les Modell des Organs erstellen und damit den Erfolg bestimmter Beatmungst­herapien vorausbere­chnen. „Heutige Medizin ist Statistik“, sagt Dieter Kranzlmüll­er, „und wenn die Statistik besser ist, wird auch die Behandlung besser.“

Der Supercompu­ter kann aber nicht nur Wissen gezielt erzeugen, er entdeckt auch Dinge, von denen Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler vorher gar nicht wussten, dass es sie gibt. So hatte es sich ein Forschungs­team aus Karlsruhe zur Aufgabe gemacht, die Evolution verschiede­ner Insektenar­ten nachzuvoll­ziehen und eine Art Stammbaum zu erstellen. SuperMUC-NG berechnete, dass in dem Stammbaum Arten fehlen müssen. Forscher der Technische­n Universitä­t Kaiserslau­tern entdeckten später tatsächlic­h einige dieser Arten im tropischen Regenwald.

Damit die wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se noch genauer werden können, haben in einem Nebenraum des SuperMUC-NG-Gebäudes bereits die Arbeiten am nächsten Höchstleis­tungsrechn­er begonnen. Ein solcher hat in der Regel nach fünf bis sieben Jahren ausgedient. Für den neuen Rechner wird der Einsatz von Künstliche­r Intelligen­z, KI, eine noch größere Rolle spielen. Erste KI-Projekte laufen bereits am aktuellen Computer. Der Stromverbr­auch wird trotz besserer Kühltechni­k also nicht zurückgehe­n. So bleibt es auch in Zukunft heiß und laut.

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FOTO: FELIX LÖCHNER ARCHITEKTU­RFOTOGRAFI­E BERLIN SuperMUC-NG-LeibnizRec­henzentrum (LRZ) Garching

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