Attackierte Vierjährige ist „über den Berg“
Mutmaßlicher Angreifer in psychiatrischem Krankenhaus – Suche nach Motiv geht weiter
- Der 34-jährige Mann, der am Mittwochnachmittag im Wangener Norma-Supermarkt ein vierjähriges Mädchen unvermittelt niedergestochen haben soll, befindet sich inzwischen in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der zuständige Haftrichter erließ am Donnerstagabend in Ravensburg auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Unterbringungsbefehl wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. Ein Überblick zum Ermittlungsstand, zu Reaktionen von Bürgern und der Polizei.
„Wir gehen bei dem Mann von einer verminderten Schuldfähigkeit oder einer Schuldunfähigkeit aus“, sagte Erste Staatsanwältin Tanja Vobiller am Freitag auf Anfrage. Konkret heißt das: Der mutmaßliche Täter könnte psychisch krank sein.
Die Vierjährige sei auf dem Weg der Besserung, das Kind sei über den Berg, sagte eine Polizeisprecherin am Freitag. Das bei der Messerattacke schwer verletzte und anschließend notoperierte Mädchen befinde sich inzwischen gesundheitlich in einem stabilen Zustand. Die Tatwaffe sei ein Küchenmesser gewesen, das nach dem Angriff sichergestellt worden sei.
Unterdessen laufen die Ermittlungen zu der Tat, die derzeit die Menschen in Wangen bewegt und die bundesweite Aufmerksamkeit der Medien hervorgerufen hat, auf Hochtouren. Dabei geht es unter anderem um die Frage, weshalb sich der Mann mit niederländischer Staatsangehörigkeit und syrischen Wurzeln in Deutschland und im Allgäu aufgehalten hat. Laut Staatsanwältin Tanja Vobiller und Ravensburgs Polizeipräsident Uwe Stürmer ist dies Gegenstand der Ermittlungen.
Klar scheint aber bereits zu sein, dass der Mann „einen Bezug zu Wangen hatte“, so Vobiller. Nach Angaben Stürmers hat sich der 34-Jährige „seit einiger Zeit“in der Stadt aufgehalten: „Er hatte offensichtlich eine Schlafstelle in Wangen“, so der Polizeipräsident. Wo diese war, müsse noch geklärt werden.
Das gilt auch für die Frage, ob und gegebenenfalls welche Verbindungen der mutmaßliche Täter zu den in unmittelbarer Nähe des Supermarkts gelegenen Flüchtlingsunterkünften hatte – eine Frage, die seit Bekanntwerden der Tat am Donnerstagmorgen in Wangen im Raum steht, aber offen ist und deshalb Anlass für zahlreiche Spekulationen in der Stadt ist.
Auch, weil sich Staatsanwaltschaft
und Polizei mit weiteren Auskünften zu der mehrstündigen Vernehmung des Mannes am Donnerstagabend mit Verweis auf die Ermittlungen zurückhalten. Wohl aber teilten die Behörden mit, dass das bei der Messerattacke schwer verletzte und anschließend notoperierte Mädchen sich inzwischen gesundheitlich in einem stabilen Zustand befindet. Ferner erklärte Staatsanwältin Vobiller, dass sich der 34-Jährige vor dem Haftrichter zu der Tat geäußert hat – sagte allerdings nicht, inwiefern.
Derweil bewegt die schreckliche Tat die Menschen in der Allgäustadt. Am Donnerstagabend gibt es deshalb vor dem Supermarkt eine Mahnwache, an der 80 Menschen teilnahmen. Eine unter dem Namen „Demo Lindenberg Info-Gruppe“firmierende Facebook-Gruppe hatte dazu unter der Parole „Hand in Hand für Deutschland“aufgerufen.
Unter jenen, die zur Mahnwache kommen, sind Freunde, Bekannte, Nachbarn und offensichtlich auch ein naher Verwandter des am Mittwochnachmittag von einem 34-Jährigen mit einem Messer schwer verletzten Mädchens – aber auch etwas schrille Personen und Vertreter der Parteien Die Basis und AfD sowie frühere Teilnehmer von Demos gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Die Autokennzeichen
rund um die Norma lassen erkennen: Längst nicht alle tragen ein heimisches „RV“oder „WG“. Die Mahnwache war nicht angemeldet, laut Polizei als Spontanversammlung aufgrund des aktuellen Vorkommnisses aber absolut legitim.
Donnerstag, 18.45 Uhr: Einige Autos mit Deutschlandfahnen und mit an den Fahrzeugen angebrachten rot-weißen Flatterbändern stehen bereits auf dem Parkplatz des Hensler Dienstleistungszentrums, auf dessen Gelände sich der Markt befindet. Kurz darauf kommt auch eine Streife des Polizeireviers Wangen. Sie seien „besorgte Bürger“, erklären ein paar vor der Norma stehende Menschen den Polizisten.
Während Letztere ein paar abseitsstehende Personen kontrollieren, wird die SZ-Reporterin als „blöde Kuh von der ,Schwäbischen’“beschimpft, wird behauptet, dass man Informationen zum Tathergang aus den Niederlanden erhalten habe – und die Medien hierzulande ja nicht berichten. Dabei hat die „Schwäbische Zeitung“online nach dem ersten Bekanntwerden der schrecklichen Tat am frühen Donnerstagmorgen ihre Informationen den gesamten Tag über aktualisiert.
Inzwischen kommen immer mehr Personen. Viele sind dabei, denen die Bestürzung über das Geschehene ins Gesicht geschrieben ist. Manche tragen Kerzen bei sich. Manche kommen aber auch und drehen nach einem Blick in die Menge und auf den Parkplatz wieder ab.
Zwei jüngere Männer mit Bierf laschen in der Hand bleiben. Sie werden später die Flaschen noch „erklingen“lassen, sich zuprosten und geleerte durch neu in der Norma gekaufte ersetzen. Zwei Reporter des vom ehemaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt betriebenen, tendenziösen Online-Boulevardmagazins „Nius“gehen in die Menge, sprechen mit einigen Teilnehmern. Auch sie werden feststellen: Es sind deutlich mehr Männer als Frauen anwesend, aber auch Menschen mit offensichtlichem Migrationshintergrund unter den Mahnwachen-Teilnehmern.
In kleineren Grüppchen wird miteinander gesprochen. Ein paar auf der Zeppelinstraße fahrende Autos mit rot-weißen Flatterbändern hupen beim Vorbeifahren. In der Zwischenzeit hat auch die Polizei ihren Einsatztrupp verstärkt. Mit Einbruch der Dunkelheit wird eine erste Fackel entzündet. Manche machen sich auf den Heimweg. Reden, bilden einen Schweigekreis oder ähnliches, aber sonstige Vorkommnisse gibt es nicht.
Am Freitag dann ist die Polizei über mehrere Stunden hinweg mit einem Infomobil auf dem Wangener Marktplatz präsent. „Wir nehmen die Ängste und die Emotionen, die gerade hochkochen, ernst und raten bei aller verständlichen Aufgeregtheit zu einem kühlen Kopf “, sagt Ravensburgs Polizeipräsident Uwe Stürmer vor Ort.
Und der Polizeichef erklärt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“: „Auch wir erhalten bei der Polizei nach solchen Taten einige Hassmails, in denen beispielsweise steht: Hängt ihn auf.“Erfahrungsgemäß und verständlicherweise sei die Stimmung emotionalisiert, seien die Menschen verunsichert. Nahezu jeder war schon einmal mit einem Kind einkaufen – eine Alltagshandlung. Und dann geschieht eine Tat, die so unerklärlich ist. Stürmer: „Das wollen wir auch nicht relativieren oder kleinreden. Nur nützt es niemandem, wenn man jetzt nach Sündenböcken sucht.“
Inzwischen hat zudem die Familie des jungen Mädchens Unterstützung bekommen. Wie Stürmer berichtet, kümmere sich der Weiße Ring, eine bundesweit tätige Anlaufstelle für Opfer von Kriminaldelikten um Eltern und Kind. Ihr stehe Bernhard Gmünder, pensionierter ehemaliger Leiter des Wangener Polizeireviers hilfreich zur Seite.