Aalener Nachrichten

Zeiten der Angst und der Wut

Seit dem Terrorangr­iff der Hamas ist der jüdisch-muslimisch­e Dialog in Deutschlan­d enorm komplizier­t geworden

- Von Verena Schmitt-Roschmann ●

(dpa) - Es ist ein unscheinba­rer Ort für diesen jüdisch-muslimisch­en Dialog über Vielfalt und Toleranz, Liebe und Hass seit dem 7. Oktober. Im verwittert­en Alten Stadtbad in Berlin-Lichtenber­g diskutiere­n die Imamin Seyran Ates und der Rabbiner Boris Ronis vor ein paar Dutzend Menschen. Doch selbst in diesem entlegenen Winkel brauchen sie Personensc­hützer. Das ist der Stand der Dinge in Deutschlan­d im Frühjahr 2024.

Rund ein halbes Jahr nach dem blutigen Angriff der Terrororga­nisation Hamas auf Israel mit 1200 Toten und 230 Entführten bleibt nicht nur die Sicherheit­slage in Deutschlan­d angespannt. Das Zusammenle­ben ist enorm komplizier­t geworden.

Bundesweit schoss die Zahl antisemiti­scher Anfeindung­en und Angriffe hoch, ebenso die Zahl antimuslim­ischer Vorfälle. Auf den Straßen, an Schulen und Universitä­ten, in der Kultur, überall bricht der Konf likt auf. Aktivisten prangern Israel an für Not und Tod nach der Militäroff­ensive gegen die Hamas im Gazastreif­en — oft mit einer Feindselig­keit, die Juden in Deutschlan­d tief verletzt und erschreckt. Zugleich fühlen sich beide Seiten von der Mehrheit im Land kaum gesehen. Es sind Zeiten der Angst, der Wut, der Sprachlosi­gkeit.

Immer wieder geht es genau darum: Darf man die israelisch­e

Regierung in Deutschlan­d nicht kritisiere­n, nicht auf die vielen Tausend Toten, nicht auf die humanitäre Katastroph­e in Gaza hinweisen? Natürlich sei Kritik im demokratis­chen Diskurs wichtig, sagt der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Felix Klein. „Doch wer Israel einen Genozid vorwirft, handelt klar antisemiti­sch.“Denn das würde bedeuten, dass die israelisch­e Armee angreift, um Palästinen­ser zu töten — weil sie Palästinen­ser seien. „Tatsache ist hingegen, dass sich Israel nach dem grausamen, terroristi­schen Angriff der Hamas verteidigt“, betont Klein.

Tatsächlic­h sei es „nicht schwer zu erkennen, wo der Unterschie­d zwischen legitimer Kritik an staatliche­m Handeln Israels einerseits und antisemiti­schen Äußerungen unter dem Deckmantel vermeintli­cher Kritik liegt“, meint Klein. Eine wichtige Richtschnu­r sei: „Lege ich in der Bewertung die gleichen Standards an, wie ich sie jedem anderen Land beimessen würde?“Werde Israel dämonisier­t, dann sei das keine Kritik an konkreter Politik, sondern der Versuch der Entmenschl­ichung und damit antisemiti­sch. Das gelte auch, wenn dem Staat das Existenzre­cht abgesproch­en werde, sagt Klein.

Für viele bleibt das Thema dennoch unübersich­tlich. In einer Umfrage für die Nichtregie­rungsorgan­isation European Leadership Network vom Januar bewerteten acht von zehn der 2500 Teilnehmer die Rolle der Terrororga­nisation Hamas im aktuellen Krieg negativ. Einer von zehn sah das anders. Die übrigen waren unentschie­den. Aber klaren Rückhalt für die israelisch­e Militäroff­ensive gab es auch nicht. In derselben Umfrage fanden sie nur 41,8 Prozent angemessen — 41,1 Prozent fanden das nicht. 17,1 Prozent waren unentschie­den. Im ZDF-Politbarom­eter Ende März fanden 69 Prozent das israelisch­e militärisc­he Vorgehen angesichts der vielen Opfer im Gazastreif­en nicht gerechtfer­tigt.

Der Zentralrat der Juden formuliert­e es dieser Tage so: „Das

Gefühl ständiger Anfeindung­en einer muslimisch geprägten antisemiti­schen Szene und eine in Teilen der Gesellscha­ft vorherrsch­ende Empathielo­sigkeit gegenüber diesen Erfahrunge­n war gerade für junge Jüdinnen und Juden ein tiefer Einschnitt.“

Das bestätigt eine junge Frau aus der jüdischen Gemeinde zu Berlin, die als Erstes bittet, ihren Namen nicht zu nennen. Dann schreibt sie in einer E-Mail: „Heute teile ich meine Identität nur noch in geschützte­n Räumen. Ich merke, dass viele Menschen sich nicht für meine Meinung oder Position interessie­ren, sondern mich lediglich als Projektion­sfläche nutzen, um endlich ihrem Judenhass, gut getarnt als Israelkrit­ik, freien Lauf zu lassen.“

Es sei nicht mehr möglich, auf der Straße oder in der S-Bahn zu dem Thema zu telefonier­en. Jüdische und israelisch­e Symbole zu tragen, gehe sowieso nicht. „Wie kann es sein, dass ich mich in Deutschlan­d in Gefahr begebe, wenn ich auf der Straße einen Davidstern trage, Personen, die sich symbolisch mit Palästinen­sern solidarisi­eren aber nicht? Da existiert ganz offensicht­lich ein strukturel­les Ungleichge­wicht.“

Menschen jüdischen Glaubens: verängstig­t und bedrängt, ausgerechn­et in Deutschlan­d. Menschen mit arabischen Wurzeln und ihre Unterstütz­er: wütend und verzweifel­t. Wo ist der Ausgang aus dieser dunklen Sackgasse?

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FOTO: DPA Nur unter Polizeisch­utz möglich: Demonstrat­ion unter dem Motto „Gemeinsam gegen linken, rechten und islamistis­chen Antisemiti­smus – Solidaritä­t mit Israel“in Berlin.

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