Netanjahus Streit mit USA isoliert Israel
Mehr Gaza-Hilfe angekündigt – Arabische Staaten könnten Annäherungsprozess bremsen
- Der offene Streit zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den USA wegen des GazaKrieges isoliert Israel im Nahen Osten und könnte die Annäherung zwischen dem jüdischen Staat und seinen arabischen Nachbarn bremsen. Sechs Monate nach Kriegsbeginn am 7. Oktober könnten Netanjahus Nein zu einer Feuerpause, sein Zerwürfnis mit Washington und das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza die arabischen Regierungen nach Einschätzung von Experten dazu bringen, ihr Verhältnis zu Israel grundsätzlich zu überdenken.
US-Präsident Joe Biden hatte am Donnerstag Netanjahu dazu aufgefordert, eine Reihe „spezifischer, konkreter und messbarer Schritte“zu unternehmen, um das Leid für die Menschen im Gazastreifen zu verringern. In einem Telefonat sprach Biden auch die Warnung aus, dass die künftige US-Politik in Bezug auf den Gazastreifen davon abhänge, wie Israel diese Maßnahmen umsetze, teilte das Weiße Haus mit. Es gehe bei den Maßnahmen auch darum, die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in dem abgeriegelten Küstenstreifen zu schützen.
Israel hatte am Freitag nach einer deutlichen Warnung des Verbündeten USA „sofortige Schritte“zur Erhöhung humanitärer Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen beschlossen. Das Kriegskabinett entschied, den Hafen von Aschdod sowie den Grenzübergang Erez vorübergehend für Hilfslieferungen zu öffnen. Dadurch kann leichter Hilfe in den besonders von Lebensmittelmangel betroffenen Norden Gazas gelangen. Auch die über den Grenzübergang Kerem Schalom aus Jordanien kommende Hilfe wird demnach aufgestockt.
Derweil vermeiden Regierungen führender arabischer Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) trotz der vielen Toten in Gaza und der öffentlichen Kritik an Israel in ihren Ländern bisher alles, was die Beziehungen zu Israel dauerhaft beschädigen könnte. Saudis und Emiratis haben konkrete Sanktionen der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit gegen Israel
verhindert. Gegner Israels wie der Iran konnten sich nicht mit der Forderung durchsetzen, die Botschafter islamischer Staaten aus Israel abzuziehen. Ägypten, Bahrain, Jordanien, Marokko, die Türkei und die VAE bleiben bei ihrer Anerkennung Israels und treiben weiter Handel mit dem jüdischen Staat.
Mit ihrer Annäherung an Israel folgen die arabischen Staaten einer Initiative der USA, ihrem wichtigsten wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Partner im Westen, der zugleich der engste Verbündete von Israel ist. Ein dauerhaftes Zerwürfnis zwischen Amerika und Israel würde dieser Politik die Grundlage entziehen. „Ernsthafte Differenzen zwischen den USA und Israel könnten arabische Staaten mit Beziehungen zu Israel dazu bringen, diese Beziehungen abzubrechen“, sagte der Nahost-Experte Omar Rahman von der Denkfabrik Middle East Council in Katar unserer Zeitung.
So weit ist es noch nicht. Viele Araber betrachteten die amerikanisch-israelischen Spannungen nicht als tiefgreifendes Zerwürfnis, sagt Joe Macaron von der USDenkfabrik Wilson Center. Zwar sei Netanjahu weitgehend isoliert. Konkret habe Washington aber bisher wenig gegen Israel unternommen, sagte Macaron unserer Zeitung.
Das gelte auch, nachdem USPräsident Joe Biden den israelischen Premier jetzt warnte, Washington mache seine Unterstützung für Israel im Gaza-Konflikt von Verbesserungen bei der Versorgung von Zivilisten und von einem besseren Schutz für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen abhängig. „Das ist zu wenig und zu spät“, sagte Macaron.
Netanjahus Krieg sei für Biden vor den Wahlen im November zu einem „Albtraum“geworden, meint Rahman. Bidens innenpolitische Probleme sind ein wichtiger Grund dafür, dass der US-Präsident auf eine härtere Linie gegenüber Netanjahu eingeschwenkt ist. Zu dieser neuen Linie gehört auch, dass die USA im UN-Sicherheitsrat kürzlich eine Resolution mit der Forderung nach einer Gaza-Feuerpause passieren ließen.
Schon kleinere Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und Israel würden zu Veränderungen in der arabischen Haltung führen, meint Rahman, denn „die israelisch-arabischen Beziehungen laufen größtenteils über Washington.“Wenn das Verhältnis der USA zu Israel nachhaltig gestört werden sollte, dürften arabische Staaten neu über ihre Beziehungen zum jüdischen Staat nachdenken: Verschiebungen der amerikanisch-israelischen Achse könnten Konsequenzen für Israel
in der gesamtem, instabilen Region haben.
Netanjahu sägt nach Einschätzung seiner Kritiker absichtlich an dieser Achse. Biden solle zum Sündenbock dafür gemacht werden, dass Netanjahu sein Kriegsziel eines „totalen Sieges“über die Hamas nicht erreichen könne, schrieb der frühere israelische Diplomat Alon Pinkas in der britischen Zeitung „Guardian“. Netanjahu habe seinen Streit mit den USA so weit getrieben, dass Washington inzwischen Israels Wert als Partner infrage stelle.
Der israelisch-amerikanische Streit berührt auch die von Katar und Ägypten vermittelten Verhandlungen über eine Feuerpause für Gaza. Netanjahu beschuldigte die USA, mit ihrem Verhalten im UN-Sicherheitsrat die Hamas zu einer kompromisslosen Haltung ermuntert zu haben. Washington wies das zurück und warf der israelischen Regierung vor, Falschnachrichten zu verbreiten.
Netanjahus Zwist mit dem Weißen Haus wird in der arabischen Welt aufmerksam beobachtet. Bisher habe sich Israel auf den politischen Schutzschirm der USA verlassen können, kommentierte die Zeitung „The National“in den VAE. Doch nun sei in den israelisch-amerikanischen Beziehungen wohl der Rubikon überschritten worden.