Ruinierte Frisur oder Schädelbruch
Einige Studien belegen den Schutzeffekt von Fahrradhelmen – Warum es nach Ansicht eines Experten mit der Helmpflicht allein nicht getan ist
Sie brettern in atemberaubendem Tempo bergab oder bergauf, springen über Stock und Stein, machen mitunter sogar einen Salto – wer Mountainbikern zuschaut, fragt sich schon, ob da nicht Unfälle an der Tagesordnung sind. Die Antwort liefert eine aktuelle Studie aus Australien: Ja, es kracht immer wieder. Aber schwere bis tödliche Kopfverletzungen sind bei Bikern eine Rarität – und das liegt am Helm.
Ein Forscherteam um Judith Finn von der University of Western Australia hat die Daten von über 221.000 verunfallten Mountainbikern aus 17 Erhebungen gesammelt und im Hinblick auf die Verletzungsschwere und die geschädigten Körperteile untersucht. Es zeigte sich, dass auf 1000 Stunden wettkampfmäßiges Mountainbiking bis zu 38 Unfallverletzungen kommen. Was deutlich niedriger ist als die 41 im Profifußball und die knapp 100 Unfallverletzungen beim Basketball. Wenn zudem das Biking nicht wettkampfmäßig betrieben wird, geht die Quote noch einmal runter, auf drei bis fünf. Von einer Hasardeur-Sportart kann man da nicht sprechen.
Verletzt werden hauptsächlich die oberen Gliedmaßen, gefolgt von Nacken und Kopf. Kopfverletzungen mit tödlichem Ausgang wurden jedoch gerade mal bei zwei der über 221.000 Unfallopfer dokumentiert, was laut Studienleiterin Finn vor allem daran liegt, „dass 99 Prozent von ihnen einen Helm trugen“. Aber es gibt auch weniger Vorbildliches. So berichtet die australische Unfallmedizinerin von einem BikerWettkampf, in dem sich zwei von drei Athleten wieder auf ihr Gerät setzten, obwohl sie zuvor bei einem Unfall eine Gehirnerschütterung erlitten hatten. Bei der Hälfte von ihnen sah man sogar einen Riss im Helm. Was im Fazit heißt: Der Helm schützt. Aber klug und umsichtig macht er offenbar nicht.
Möglicherweise macht er sogar besonders leichtsinnig, und das nicht nur beim Biken, sondern auch im normalen Straßenverkehr. Die Wissenschaft spricht hier von einer „Risikokompensation“. Nach dem Muster: Ich trag’ ja einen Helm, also kann ich auf dem Rad mehr riskieren. Einige Studien zeigen jedenfalls in diese Richtung. So testete ein Forscherteam von der Friedrich-SchillerUniversität Jena an 40 Probanden, wie sich ihr Verhalten bei einem Computerspiel veränderte, wenn man ihnen einen Fahrradhelm aufsetzte. Das Ergebnis: Sie riskierten deutlich mehr. Laut Studienleiterin Barbara Schmidt lässt sich dieses Laborergebnis nicht ohne Weiteres auf den Straßenverkehr übertragen. Außerdem würden andere Studien zeigen, „dass Personen, die normalerweise einen Fahrradhelm tragen und dann plötzlich keinen, sich unsicherer fühlen“. Die Psychologin plädiert daher für das Tragen des Kopfschutzes.
Dies tut auch Christopher Spering von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Er möchte zwar, auch wenn „der letztendliche Nachweis dazu schwierig ist“, nicht ausschließen, dass Helmträger beim Radfahren mehr Risiko gehen. Doch das ist für ihn kein Argument gegen das Helmtragen an sich, sondern vielmehr eine Bestätigung dafür, dass man bei der – immer wieder stark diskutierten – Einführung der Helmpf licht nicht nur einfach das Prinzip „Helm drauf, und das war’s“verfolgen darf. „Dazu gehört auch, bei den Radfahrern ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass der Helm nicht das umsichtige Verhalten im Straßenverkehr ersetzen kann“, so Spering.
Seine direkten Schutzwirkungen sind jedoch belegt, und das gilt gerade für den Straßenverkehr. Denn dort drohen – im Unterschied zum Biking mit „reinen“Stürzen – noch Kollisionen mit anderen, kräftigeren Teilnehmern wie Autos, Bussen und Lastwagen, bei denen der Kopf als exponiertes Körperteil besonders gefährdet ist. „Wobei gar nicht mal der erste Kontakt mit der relativ f lexiblen Autokarosserie, als vielmehr der abschließende Aufprall auf die harte Straßendecke oder Bordsteinkante das Problem ist“, betont Spering. Hier könne der Helm das Schlimmste, wie etwa Schädelbruch oder Hirnblutung, verhindern.
Eine Studie im Auftrag der Verkehrsministerien Baden-Württemberg und Thüringen ergab, dass er bei leichteren Unfällen 20 Prozent und bei schwereren Unfällen über 80 Prozent der Kopfverletzungen verhindert. Am rechtsmedizinischen Institut in München erbrachte eine Analyse von 117 tödlichen Fahrradunfällen, dass 95 Prozent der Opfer keinen Kopfschutz trugen. Der Helm schützt also nicht nur im Labor, sondern nachweislich auch im alltäglichen Straßenverkehr. Vorausgesetzt, er ist intakt. „Mit einem gebrochenen Helm wieder auf die Piste zu gehen, wie bei dem geschilderten Biking-Wettbewerb, ist einfach nur fahrlässig“, warnt Spering.
Der Unfallchirurg, der am UniKlinikum Göttingen arbeitet, betont aber, dass Fahrradhelme generell nicht für immer schützen, sondern eine zeitlich begrenzte Lebensdauer haben. Dies gelte es ebenfalls bei der Einführung der Helmpf licht zu berücksichtigen. „Wenn sie lediglich dazu führt, dass die Polizei einen Radfahrer mit Helm sieht und die Sache damit als erledigt sieht, verfehlt sie ihr Ziel“, warnt Spering. Der Helm müsse auch funktionstüchtig sein, und bei der Kontrolle dieses Umstandes wäre die Polizei sicherlich überfordert. „Man kommt also auch hier nicht daran vorbei, das Bewusstsein der Radfahrer für das Problem zu schärfen“, fordert Schering.
Einige Experten empfehlen, den Helm generell alle fünf Jahre auszutauschen. Einige Produkte halten aber auch länger. Verlängern lässt sich die Haltedauer des Helms, indem man ihn vor Sonne und Regen mit einer Haube schützt, damit sein Material nicht mürbe wird. Nach einem „Kopftreffer“bei einem Unfall gehört er in jedem Fall ausgetauscht. Und bei Kindern sollte das ungefähr alle drei Jahre geschehen, weil ihr Kopf wächst und der Helm dann möglicherweise nicht mehr passt.
Doch selbst intakte und passende Helme haben den Nachteil, dass sie den Umfang des Kopfes vergrößern. Das verlängert den Hebelarm zur Halswirbelsäule, auf die dadurch mehr Energie übertragen wird. Kritiker führen das damit einhergehende Verletzungsrisiko gerne als Argument gegen die Helmpf licht an. Abhilfe verspricht hier jedoch der sogenannte Kopfairbag. Er wird wie eine Halskrause um den Hals getragen und ist mit Sensoren ausgestattet, sodass er sich im Falle eines Unfalls aufbläst. Er funktioniert dann wie ein vom Motorrad bekannter Vollintegralhelm, der zusätzlich zum Kopf den Halsund Unterkieferbereich fest umschließt. Was nicht nur die Halswirbelsäule stabilisiert. Laut einer Studie der kalifornischen Stanford University schützt der Kopfairbag sechsmal besser vor Gehirnerschütterungen als ein konventioneller Helm, das Risiko eines Schädelbruchs sinkt gegen null.
Der Haken: Diese Modelle kosten rund 300 Euro. Dafür haben sie den Vorteil, dass sie, solange sie nicht aufgeblasen sind, das Sichtfeld freihalten und die Frisur nicht durcheinanderbringen. „Und das Argument mit der Frisur“, weiß Spering, „wird besonders oft genannt, um sich vor dem Fahrradhelm zu drücken“.