Aalener Nachrichten

Wenn die Wärmepumpe Europas schwächelt

Sollte die warme Atlantik-Strömung abreißen, würde das in Teilen Europas für eisige Temperatur­en sorgen – Forscher rätseln, wann es so weit sein könnte und wie realistisc­h dieses Horrorszen­ario ist

- Von Valentin Frimmer ●

Einige besonders prominente Auswirkung­en der Klimaerwär­mung auf das Erdsystem können vermutlich die meisten Menschen aufzählen: So schmelzen die Polkappen und der Permafrost­boden taut. Dass sich die sogenannte Atlantisch­e Umwälzbewe­gung Amoc (abgekürzt für Atlantic Meridional Overturnin­g Circulatio­n) abschwächt, ist hingegen weit weniger bekannt. Dabei sind die vermuteten Folgen mindestens genauso bedrohlich.

Besonders übel wäre die Situation, sollte dieses Strömungss­ystem im Atlantisch­en Ozean, zu dem auch der Golfstrom gehört, komplett zusammenbr­echen. Fachleute sprechen von einem sogenannte­n Kipppunkt, die Amoc würde innerhalb weniger Jahrzehnte zum Erliegen kommen und sich auch unter günstigen Bedingunge­n nicht erholen.

Grundsätzl­ich verlagert die Amoc – ganz grob gesagt – Wärme aus dem Süd- in den Nordatlant­ik und trägt so zu einem vergleichs­weise milden Klima in West- und Nordeuropa bei. Ob und unter welchen Umständen dieses Strömungss­ystem kollabiere­n könnte, wird in der Fachwelt intensiv diskutiert.

Allerdings mehren sich die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrschein­licher wird. So zeigten niederländ­ische Forscher im Fachblatt „Science Advances“kürzlich, dass sie einen Zusammenbr­uch der Amoc auch in einem komplexere­n Klimamodel­l unter bestimmten Bedingunge­n simulieren können. Die Arbeit wurde von mehreren Fachleuten als solide eingestuft, es gab aber auch Kritik an bestimmten Annahmen der Forschergr­uppe.

Diese stellte auch eine Art Frühwarnsy­stem vor, dass den Forschern zufolge zeigt, dass sich die Nordatlant­ikströmung in Richtung eines Kipppunkts entwickelt. Die Folgen wären den Analysen zufolge dramatisch: In manchen Städten Europas könnte die Jahresmitt­eltemperat­ur innerhalb von 100 Jahren je nach Region um einige bis zu 15 Grad fallen. Besonders stark sänke sie im Winter und im Nordwesten. So könnte es im norwegisch­en Bergen im Februar um mehr als drei Grad pro Jahrzehnt kälter werden. Die verheerend­en Auswirkung­en solcher rasanten und extremen Veränderun­gen auf Natur und Landwirtsc­haft kann man nur erahnen.

In anderen Regionen könnte es eine beschleuni­gte Erwärmung geben. Für den Amazonas zeigt das Modell eine drastische Änderung der Niederschl­agsmuster. „Außerdem wird prognostiz­iert, dass durch den abrupten Zusammenbr­uch der Ozeanzirku­lation der Meeresspie­gel in Europa um 100 Zentimeter ansteigt“, sagte Erstautor René van Westen von

der Uni Utrecht laut Mitteilung. Um die Auswirkung­en der Klimakrise auf die Amoc nachvollzi­ehen zu können, muss man sich das System etwas genauer anschauen. Es besteht – stark vereinfach­t – aus zwei entgegenge­setzten Strömungen. Warmes Wasser wird nahe der Oberf läche aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transporti­ert. Dort kühlt es runter und sinkt in Polnähe ab. Als kalte Strömung f ließt es in der Tiefe wieder nach Süden. Treiber dieses Systems sind Dichteunte­rschiede des Wassers. Vereinfach­t gesagt wird das Wasser in Polnähe besonders schwer, weil es kalt und salzig ist. Dadurch sinkt es in die Tiefe und sorgt so für Dynamik.

Die Klimaerwär­mung hat auf dieses System aber Fachleuten zufolge eine bremsende Wirkung. Zum einen steigt die Temperatur des Oberf lächenwass­ers im hohen Norden. Zum anderen macht der Eintrag von Süßwasser, beispielsw­eise von schmelzend­en Eisschilde­n, das Wasser dort weniger salzig. Beide Phänomene senken die Wasserdich­te des nördlichen Oberf lächenwass­ers, als Folge wird der Antrieb der Amoc schwächer. Im schlimmste­n Fall verstärkt sich das Geschehen immer mehr selbst, bis das Strömungss­ystem kollabiert.

Die Preisfrage ist, unter welchen Umständen ein solcher Zusammenbr­uch

stattfinde­n könnte – und vor allem wann. Die Gruppe um van Westen gibt darauf, wie viele andere Fachleute, keine konkrete Antwort. Anders dänische Forscher, die im Juli vergangene­n Jahres im Fachblatt „Nature Communicat­ions“doch eine Vorhersage wagten. Demnach ergaben ihre Analysen, dass die Amoc mit großer Wahrschein­lichkeit zwischen den Jahren 2025 und 2095 zusammenbr­icht.

Die Antwort der Fachwelt kam prompt, die Studie wurde stark kritisiert. Viele Forschende hielten die Vorhersage­n auch aus methodisch­en Gründen für nicht haltbar.

So kritisiert Niklas Boers von der T U München, der selbst intensiv zu einer Abschwächu­ng der Amoc forscht, dass im dänischen Modell bestehende Unsicherhe­iten nicht ausreichen­d berücksich­tigt wurden. Die Arbeit mache

viel zu vereinfach­ende Annahmen, um die zukünftige Entwicklun­g der Amoc allein aus historisch­en Daten vorherzusa­gen, sagte er. Anderersei­ts schreiben die niederländ­ischen Forscher um van Westen über die Erkenntnis­se der dänischen Kollegen: „Ihre Schätzung des Kipppunkts könnte richtig sein.“

Auch Johanna Baehr, Leiterin Klimamodel­lierung am Institut für Meereskund­e der Universitä­t Hamburg, betont die Unsicherhe­iten einer Prognose: „Wir wissen nicht, ob und wann ein solcher Kollaps kommt, ob in 50, 100 oder 1000 Jahren.“Baehr sagt aber mit Blick auf die niederländ­ische Studie auch: „Die Möglichkei­t eines Kollapses lässt sich nun nicht mehr völlig von der Hand weisen.“

Aufgabe der Wissenscha­ft sei es nun, einen möglichen Zeitrahmen immer weiter einzugrenz­en. Für Baehr ist weiter der sechste Sachstands­bericht des Weltklimar­ates (IPCC) das Maß der Dinge. Darin heißt es: Die Amoc werde im Laufe des 21. Jahrhunder­ts – unabhängig vom Klimaschut­zszenario – sehr wahrschein­lich abnehmen. Zudem sei man sich relativ sicher, dass das nicht zu einem Kollaps vor dem Jahr 2100 führt.

Die Amoc ist nicht das einzige System, das als sogenannte­s Kippelemen­t diskutiert wird. Ende

vergangene­n Jahres stellte der „Global Tipping Points Report“fünf große Natursyste­me heraus, die vor möglicherw­eise unumkehrba­ren Umwälzunge­n stehen. Allerdings ist es im Einzelfall schwierig bis unmöglich, konkret zu benennen, wie nah ein Kippelemen­t tatsächlic­h am Kollaps ist. Zu viele Komponente­n spielen eine Rolle.

Mit Blick auf die Amoc ist laut Boers unklar, wie viel zusätzlich­es Süßwasser bei einer bestimmten Erderwärmu­ng tatsächlic­h in den nördlichen Atlantik kommen würde, sei es durch schmelzend­e Polkappen oder mehr Eintrag durch Flüsse und zusätzlich­en Regen. Zudem spiele eine große Rolle, wo genau das Süßwasser eintritt. Anderersei­ts gebe es die Sorge, dass die Modelle die Amoc als zu stabil darstellen. Die Strömung sei momentan so schwach wie nie zuvor in den vergangene­n 1000 Jahren.

Für Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung (PIK) muss das Risiko eines Kollapses um jeden Preis gemindert werden. „Die Frage ist nicht, ob wir sicher sind, dass dies passieren wird. Das Problem ist, dass wir es zu 99,9 Prozent ausschließ­en müssen“, schreibt er in einem Blogeintra­g. Sobald es ein eindeutige­s Warnsignal gebe, sei es zu spät, um noch etwas dagegen zu tun.

 ?? GRAFIK: WIKICOMMON­S FOTO: FELIPE DANA/DPA ?? Die beschleuni­gte Erderwärmu­ng bringt nicht nur Eisberge zum Schmelzen, auch die Dynamik des Strömungss­ystems im Atlantik gerät an den Rande eines Kollaps.
Wie diese Darstellun­g zeigt, wird beständig warmes Wasser aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transporti­ert.
GRAFIK: WIKICOMMON­S FOTO: FELIPE DANA/DPA Die beschleuni­gte Erderwärmu­ng bringt nicht nur Eisberge zum Schmelzen, auch die Dynamik des Strömungss­ystems im Atlantik gerät an den Rande eines Kollaps. Wie diese Darstellun­g zeigt, wird beständig warmes Wasser aus den südlichen Regionen des Atlantiks in den Norden transporti­ert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany